Die neue Medizin der Emotionen. David Servan-Schreiber
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Die Behandlungsmethoden, die ich auf den folgenden Seiten darstelle, wenden sich unmittelbar an das emotionale Gehirn. Die Sprache umgehen sie nahezu ganz. Ihre Wirkungen erzielen sie eher über den Körper als über das Denken. Es gibt zahlreiche derartige Verfahren. In meiner klinischen Praxis bevorzuge ich solche, die durch strenge und glaubwürdige Untersuchungen wissenschaftlich überprüft wurden.
Jedes der nun folgenden Kapitel stellt also einen solchen Ansatz vor, veranschaulicht durch Berichte von Patienten, deren Leben sich durch diese Erfahrung verändert hat. Ebenso werde ich mich bemühen zu zeigen, wie jedes dieser Verfahren wissenschaftlich überprüft und seine heilsamen Auswirkungen bestätigt wurden. Einige wurden erst in jüngster Zeit entwickelt; sie bedienen sich der Spitzentechnologien, etwa des vor allem unter der amerikanischen Abkürzung EMDR bekannten Verfahrens zur »Desensibilisierung und Wiederherstellung mittels der Augenbewegungen« oder der Regulierung des Herzrhythmus, oder der »Synchronisierung chronobiologischer Rhythmen mittels Sonnenaufgangssimulation«. Andere Methoden wie Akupunktur, richtige Ernährung, emotionale Kommunikation sowie Techniken der sozialen Integration sind aus jahrtausendealten medizinischen Traditionen hervorgegangen. Doch was auch immer ihr Ursprung ist, alles beginnt bei den Gefühlen. Daher ist es nötig, zunächst einmal genauer zu erklären, auf welche Weise sie funktionieren.
I Anmerkungen und bibliographische Hinweise sind am Ende des Buches kapitelweise aufgeführt.
2 DAS UNBEHAGEN IN DER
NEUROBIOLOGIE: DIE SCHWIERIGE
HOCHZEIT ZWEIER GEHIRNE
Wir sollten uns davor hüten, den Intellekt zu unserem Gott zu machen; Gewiss, er hat starke Muskeln, jedoch keine Persönlichkeit. Er darf nicht herrschen; nur dienen.
Albert Einstein
OHNE GEFÜHLE HAT DAS LEBEN KEINEN SINN. Was gibt denn unserer Existenz die Würze, wenn nicht die Liebe, die Schönheit, die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Würde, die Ehre und die Befriedigung, die sie uns schenken? Diese Empfindungen und die damit verbundenen Emotionen sind so etwas wie ein Kompass, der uns bei jedem Schritt die Richtung weist. Wir streben stets nach immer mehr Liebe, immer mehr Schönheit, immer mehr Gerechtigkeit und versuchen uns von ihrem jeweiligen Gegenpol zu entfernen. Der Gefühle beraubt, verlieren wir die wichtigsten Orientierungspunkte und sind nicht mehr fähig, entsprechend dem, was uns wirklich am Herzen liegt, Entscheidungen zu treffen.
Bestimmte Geisteskrankheiten äußern sich in einem solchen Kontaktverlust. Davon betroffene Patienten sind sozusagen in ein emotionales Niemandsland verbannt. Wie beispielsweise Peter, ein junger Kanadier griechischer Abstammung, der in der Notaufnahme meines Krankenhauses landete, als ich noch Assistenzarzt war.
Peter hörte seit einiger Zeit Stimmen. Sie sagten ihm, er sei eine lächerliche Figur, unfähig, und er täte besser daran zu sterben. Allmählich waren die Stimmen allgegenwärtig und das Verhalten Peters immer merkwürdiger geworden. Er wusch sich nicht mehr, weigerte sich zu essen und schloss sich manchmal etliche Tage hintereinander in seinem Zimmer ein. Seine allein stehende Mutter, mit der er zusammenlebte, kam fast um vor Sorgen, wusste aber nicht so recht, was tun. Außerdem war ihr Sohn – stets der Klassenbeste und im ersten Semester Philosophie ein brillanter Student – immer schon ein wenig exzentrisch gewesen.
Eines Tages hatte Peter, auf irgendetwas – was, wusste keiner – wütend, seine Mutter beschimpft und geschlagen. Sie hatte die Polizei rufen müssen, und so war Peter schließlich in der Notaufnahme des Krankenhauses gelandet. Unter der Einwirkung von Medikamenten hatte Peter sich weitgehend beruhigt. Die Stimmen waren nach einigen Tage praktisch verschwunden; er erklärte, er habe sie jetzt »unter Kontrolle«. Aber normal war er trotzdem nicht wieder geworden.
Nach einer mehrwöchigen Behandlung – antipsychotische Medikamente müssen über längere Zeit hinweg eingenommen werden – war seine Mutter fast genauso beunruhigt wie am ersten Tag. »Er empfindet überhaupt nichts mehr, Herr Doktor«, erklärte sie mit beinahe flehentlicher Stimme. »Sehen Sie ihn sich nur an. Er interessiert sich für nichts mehr, tut nichts mehr. Raucht nur noch den ganzen Tag.«
Während sie sich mit mir unterhielt, beobachtete ich Peter. Sein Anblick war Mitleid erregend. Leicht gekrümmt, mit starrem Gesicht und leerem Blick, rannte er mit großen Schritten durch den Gang der Ambulanz. Der einst so herausragende Student reagierte kaum mehr auf Signale aus der Außenwelt oder auf Menschen. Genau dieser Zustand der Gefühlsverarmung bei Patienten wie Peter löst in ihrem Umfeld oft Mitleid und Besorgnis aus. Seine Halluzinationen und Wahnvorstellungen – durch die Medikamente unterdrückt – waren jedoch weit gefährlicher für ihn und seine Mutter als diese Nebenwirkungen. Denn: keine Gefühle, kein Leben.I
Seinen Gefühlen uneingeschränkt freien Lauf zu lassen garantiert jedoch auch kein traumhaftes Leben. Sie müssen – und dafür sind die Denkfunktionen zuständig – unbedingt mittels rationaler Analyse den jeweiligen Umständen angepasst werden, denn jede unbedachte Entscheidung kann das komplizierte Gleichgewicht unserer Beziehungen zu anderen in Gefahr bringen. Ohne Konzentration, Überlegung und Planung werden wir nach dem Zufallsprinzip zwischen Vergnügen und Frustration hin und her gerissen. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, unser Leben im Griff zu behalten, verliert es sehr schnell seinen Sinn.
DIE EMOTIONALE INTELLIGENZ
Am besten wird dieses Gleichgewicht zwischen Gefühl und Vernunft durch den Begriff der »emotionalen Intelligenz« definiert. Geprägt wurde er von Forschern der Universität Yale/New Hampshire1; seine Sternstunde erlebte er beim Erscheinen des Buches von Daniel Goleman, Wissenschaftsjournalist der New York Times, das weltweit für Aufsehen sorgte und die Diskussion über die Frage »Was ist Intelligenz« erneut entfachte.2 Die emotionale Intelligenz ist eine ebenso einfache wie wichtige Vorstellung. In ihrer ursprünglichen und allgemeinsten Definition durch den französischen Psychologen Alfred Binet, der Anfang des 20. Jahrhunderts den »Intelligenzquotienten« erfand, bedeutet Intelligenz die Gesamtheit der geistigen Fähigkeiten, die es erlauben, den künftigen Erfolg einer Person vorherzusagen. Im Prinzip müsste man also, je »intelligenter« man ist, das heißt, je höher der eigene IQ ist, desto mehr »Erfolg« haben. Um diese Voraussage zu überprüfen, entwickelte Binet ein als »Intelligenztest« berühmt gewordenes Verfahren. Dieser Test richtet sich hauptsächlich auf die Fähigkeiten zu Abstraktion und Flexibilität beim Umgang mit logischer Information. Allerdings stellte man fest: Das Verhältnis zwischen dem IQ einer Person und ihrem »Erfolg« im umfassenderen Sinn (gesellschaftliche Stellung, Verdienst, ob verheiratet oder nicht, Kinder oder nicht und so weiter) berücksichtigt er kaum. Laut diversen Untersuchungen lassen sich nur 20 Prozent dieses Erfolgs dem IQ zuschreiben. Dies legt folgenden Schluss nahe: Zu 80 Prozent beruht Erfolg auf anderen, ganz offensichtlich wichtigeren Faktoren als der abstrakten und logischen Intelligenz.
Schon Jung und Piaget hatten die Ansicht vertreten, dass es verschiedene Arten von Intelligenz gibt. Nicht zu leugnen ist, dass bestimmte Menschen – wie Mozart – auf dem Gebiet der Musik, andere – beispielsweise Rodin – was die Formgestaltung betrifft, und eine dritte Kategorie für die Bewegung ihres Körpers im Raum – man denke an Nurejew oder Michael Jordan – über eine bemerkenswerte Intelligenz verfügen. Die Forscher in Yale/New Hampshire entdeckten eine zusätzliche Form der Intelligenz: Sie gehört zum Verständnis und Umgang mit unseren Emotionen. Genau diese Form von Intelligenz, die »emotionale Intelligenz«, kann offenbar besser als jede andere den Erfolg im Leben erklären. Und sie ist weitgehend unabhängig vom Intelligenzquotienten.