Das Antikrebs-Buch. David Servan-Schreiber

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Das Antikrebs-Buch - David Servan-Schreiber

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ertragen die Enge in der Röhre nicht: 10 bis 15 Prozent der Patienten sind so klaustrophobisch, dass eine Magnetresonanztomografie für sie nicht infrage kommt.

      Da liege ich nun, und wie üblich zeichnen wir zuerst die Gehirnstruktur des Versuchskandidaten auf. Gehirne sind wie Gesichter – keines gleicht dem anderen. Bevor wir Messungen durchführen, muss das Gehirn im Ruhezustand aufgenommen werden. Dieses sogenannte anatomische Bild wird dann mit den Aufnahmen des aktiven Gehirns verglichen, den funktionellen Bildern. Während des Vorgangs ist ein lautes Klopfen zu hören, wie wenn man mit einem Metallstab wiederholt auf den Boden schlagen würde. Das Geräusch kommt von den Bewegungen des Elektromagneten, der durch schnelles Ein- und Ausschalten Variationen im Magnetfeld des Gehirns erzeugt. Die Geschwindigkeit des Klopfens hängt davon ab, ob es sich um eine anatomische oder funktionelle Aufnahme handelt. Nach dem zu schließen, was ich höre, machen Jonathan und Doug anatomische Aufnahmen von meinem Gehirn.

      Nach zehn Minuten ist die anatomische Phase abgeschlossen. Ich warte darauf, dass auf den kleinen Monitoren über meinen Augen die von uns programmierte »mentale Aufgabe« erscheint, mit der die Aktivität im präfrontalen Kortex angeregt werden soll, denn Ziel unseres Experiments soll ja die Abbildung dieser Aktivität sein. Bei der Aufgabe leuchten in rascher Abfolge Buchstaben auf. Jedes Mal, wenn zwei aufeinanderfolgende Buchstaben identisch sind, soll ich einen Knopf drücken (der präfrontale Kortex wird aktiviert, weil ich mich ein paar Sekunden lang an die Buchstaben erinnern muss, die nicht mehr auf dem Bildschirm zu sehen sind, um sie mit den nachfolgenden zu vergleichen). Ich warte auf die Aufgabe, die Jonathan mir schicken soll, und das typische schnelle Klopfen des Scanners bei der Aufnahme der funktionellen Hirntätigkeit. Aber nichts passiert. Ich verstehe nicht, was los ist. Jonathan und Doug sitzen hinter einer Scheibe im Kontrollraum, wir können nur über eine Sprechanlage miteinander kommunizieren. Endlich höre ich über den Kopfhörer: »David, wir haben ein Problem. Mit den Bildern stimmt etwas nicht. Wir müssen sie noch mal machen.« Gut. Ich warte.

      Wir fangen noch einmal von vorn an. Wieder machen wir zehn Minuten lang anatomische Bilder, dann ist es Zeit für die mentale Aufgabe. Doch ich warte vergeblich. Schließlich meldet sich Jonathan: »Hör zu, da stimmt etwas nicht. Wir kommen zu dir.« Die beiden betreten den Scanner-Raum, und als sie mich aus der Röhre ziehen, registriere ich ihren merkwürdigen Gesichtsausdruck. Jonathan legt mir die Hand auf den Arm und sagt: »Wir können das Experiment nicht machen. Da ist etwas mit deinem Gehirn.« Dann zeigen sie mir auf dem Monitor die Bilder, die sie gerade zweimal mit dem Computer aufgenommen haben.

      Ich war weder Radiologe noch Neurologe, hatte aber viele Aufnahmen von Gehirnen gesehen; das gehörte zu unserer täglichen Arbeit. In der rechten Region meines präfrontalen Kortex war eindeutig ein rundes, walnussgroßes Gebilde zu erkennen. An dieser Stelle war das kein gutartiger Hirntumor, wie beispielsweise ein Meningeom oder ein Adenom (Geschwulst) an der Hirnanhangdrüse, die man operieren kann und die nicht zu den aggressiven Tumoren gehören. Es konnte eine Zyste sein oder ein infektiöser Abszess, ausgelöst durch bestimmte Krankheiten wie Aids. Aber mein Gesundheitszustand war ausgezeichnet, ich trieb viel Sport und war sogar Kapitän meiner Squashmannschaft. Damit war eine gutartige Geschwulst ausgeschlossen.

      Es ließ sich nicht leugnen, dass es sich um eine schwerwiegende Entdeckung handelte. In fortgeschrittenem Stadium kann ein Hirntumor ohne Behandlung innerhalb von sechs Wochen zum Tod führen, mit Behandlung innerhalb von sechs Monaten. Ich wusste nicht, in welchem Stadium ich mich befand, aber ich kannte die Statistik. Wir schwiegen, wir wussten alle drei nicht, was wir sagen sollten. Jonathan schickte die Aufnahmen an die Radiologieabteilung, damit ein Spezialist sie am nächsten Tag auswerten konnte. Dann verabschiedeten wir uns.

      Ich lenkte mein Motorrad zu unserem Häuschen am anderen Ende der Stadt. Es war elf Uhr nachts; am klaren Himmel leuchtete ein prächtiger Mond. Als ich ins Schlafzimmer trat, schlief Anna schon. Ich legte mich neben sie und starrte an die Decke. Wie seltsam, dass mein Leben so enden sollte. Es war unvorstellbar. Zwischen dem, was ich gerade erfahren hatte, und dem, was ich über so viele Jahre aufgebaut hatte, tat sich eine tiefe Kluft auf. Ich hatte einen langen Anlauf genommen und wollte jetzt gerade zum Sprung ansetzen, wollte etwas erreichen. Ich hatte das Gefühl, dass ich noch ganz am Anfang stand und gerade erst begonnen hatte, einen nützlichen Beitrag zu leisten. Für meine Ausbildung und meine Karriere hatte ich viele Opfer gebracht, viel in die Zukunft investiert. Und plötzlich sah es so aus, als ob es womöglich gar keine Zukunft für mich geben würde.

      Mir wurde bewusst, dass ich ganz allein war. Meine Brüder hatten eine Zeit lang in Pittsburgh studiert, waren aber nach ihren Examen weggezogen. Ich hatte keine Frau mehr, und meine Beziehung mit Anna war noch ganz frisch; sie würde mich sicher verlassen, denn wer wollte schon einen Partner, der mit 31 Jahren zum Sterben verurteilt ist? Ich sah mich selbst als ein Stück Holz, das den Fluss hinuntertrieb und plötzlich ans Ufer geschwemmt wurde, in einer Pfütze stehenden Wassers liegen blieb. Ich würde es nie bis zum Ozean schaffen. Durch einen Schicksalsschlag saß ich an einem Ort fest, mit dem mich nichts verband. Ich würde mutterseelenallein in Pittsburgh sterben.

      Während ich dalag und grübelnd dem Rauch meiner kleinen indischen Zigarette nachsah, geschah etwas Merkwürdiges. Ich wollte nicht schlafen. Ich hing meinen Gedanken nach und hörte, wie sich in meinem Hinterkopf plötzlich eine leise Stimme zu Wort meldete – ruhig und bestimmt, voller Überzeugung und Klarheit, mit einer Gewissheit, die ich von mir nicht kannte. Das war nicht ich, aber es war definitiv meine Stimme. Gerade, als ich mir immer wieder sagte: »Das kann nicht sein, das kann mir unmöglich passieren«, erklärte die Stimme: »Weißt du was, David? Natürlich ist es möglich, und es ist nicht so schlimm.« Etwas geschah mit mir, etwas Erstaunliches und Unbegreifliches. Von diesem Augenblick an war ich nicht mehr wie gelähmt. Es lag doch auf der Hand: Ja, es war möglich. Wir alle müssen sterben. Viele andere hatten diese Erfahrung vor mir gemacht, es war nichts Besonderes. Es war nichts falsch daran, menschlich und damit sterblich zu sein. Mein Gehirn hatte ganz allein einen Weg gefunden, mich zu beruhigen und zu trösten. Später, als mich wieder Angst überkam, musste ich lernen, meine Gefühle im Zaum zu halten. Aber in jener Nacht konnte ich einschlafen, und am nächsten Tag war ich in der Lage, zur Arbeit zu gehen und die notwendigen Schritte einzuleiten, um mich meiner Krankheit und meinem Leben zu stellen.

      KAPITEL 2

      WIE ENTKOMMT MAN DER STATISTIK?

      STEPHEN JAY GOULD WAR PROFESSOR für Zoologie, ein Spezialist für Evolutionstheorie an der Harvard University. Er war außerdem einer der einflussreichsten Wissenschaftler seiner Generation und galt bei vielen wegen seiner umfassenden Theorien zur Entwicklung der Arten als »zweiter Darwin«.

      Im Juli 1982 erfuhr er im Alter von 40 Jahren, dass er ein Mesotheliom in der Bauchhöhle hatte, eine seltene und bösartige Krebsform, deren Entstehung man vor allem dem Kontakt mit Asbest zuschreibt. Nach der Operation bat er seine Ärztin, ihm die besten Fachartikel über Mesotheliome zu nennen. Bis dahin war die Onkologin immer sehr offen zu ihm gewesen, doch jetzt antwortete sie ausweichend, die medizinische Literatur biete nichts wirklich Stichhaltiges zum Thema. Aber einen Wissenschaftler von Goulds Format daran hindern zu wollen, die Veröffentlichungen zu einem Thema zu studieren, das ihn selbst betrifft, ist ein wenig so, wie Gould später schrieb, als würde man »dem Homo sapiens, dem Primaten mit dem stärksten Geschlechtstrieb, empfehlen, keusch zu leben«.

      Gould ging schnurstracks vom Krankenhaus zur Universitätsbibliothek und setzte sich mit einem Stapel aktueller medizinischer Fachzeitschriften an einen Tisch. Eine Stunde später verstand er, warum die Ärztin ihm ausgewichen war. Die wissenschaftlichen Studien ließen keinen Zweifel: Ein Mesotheliom war »unheilbar«, die mediane Überlebenszeit lag bei acht Monaten ab Diagnose, das heißt, dass die Patienten durchschnittlich noch acht Monate lebten. Wie ein Tier, das plötzlich in die Klauen eines Raubtiers geraten ist, spürte Gould Panik in sich aufsteigen. Eine gute Viertelstunde lang waren Körper und Geist wie betäubt.

      Schließlich gewann seine naturwissenschaftliche Ausbildung

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