Das Antikrebs-Buch. David Servan-Schreiber
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Solange wir nicht ernsthaft krank sind, scheint das Leben unendlich, und wir schieben den Tod gern von uns weg. Wir denken wohl, dass immer noch Zeit ist, das Glück zu suchen. Zuerst muss ich meinen Abschluss machen, meine Schulden abbezahlen, die Kinder großziehen, in Ruhestand gehen … Über Glück mache ich mir später Gedanken. Wenn wir die Suche nach dem Wesentlichen immer auf morgen verschieben, riskieren wir, dass uns das Leben durch die Finger rinnt, ohne dass wir es jemals richtig genossen haben.
Mit geöffneten Augen
Manchmal kuriert uns Krebs von dieser seltsamen Kurzsichtigkeit, dem Zaudern und Zögern. Eine Krebsdiagnose öffnet uns die Augen dafür, wie vergänglich das Leben ist, und kann dem Leben so seinen wahren Reiz zurückgeben. Einige Wochen nach der Diagnose meines Gehirntumors hatte ich das seltsame Gefühl, ein Schleier wäre weggezogen worden, der mir bis dahin die Sicht getrübt hatte. An einem Sonntagnachmittag betrachtete ich Anna in dem kleinen sonnigen Zimmer unseres Häuschens. Sie saß auf dem Boden neben dem Couchtisch, versuchte sich an der Übersetzung französischer Gedichte ins Englische und strahlte Konzentration und Ruhe aus. Zum ersten Mal sah ich sie so, wie sie war, ohne mich zu fragen, ob ich nicht lieber eine andere Frau hätte. Ich sah, wie eine Haarsträhne anmutig nach vorne fiel, wenn Anna den Kopf über das Buch beugte, sah, wie leicht die zarten Finger den Stift hielten. Warum war mir nie aufgefallen, wie anrührend es war, wenn sie bei der Suche nach einem bestimmten Wort unbewusst die Kiefermuskeln anspannte? Mit einem Mal sah ich sie als sie selbst, losgelöst von meinen Fragen und Zweifeln. Ihre Gegenwart war unglaublich bewegend. Allein dass es mir vergönnt war, diesen Moment zu erleben, erschien mir als ein großes Privileg. Warum hatte ich sie nicht früher so sehen können?
Irvin Yalom, der große Psychiater und Professor an der Stanford University, zitiert in seinem Buch über den Wandel, den die Aussicht auf einen baldigen Tod bewirkt, einen Brief, den ihm Anfang der Sechzigerjahre ein Senator schrieb, kurz nachdem er erfahren hatte, dass er schwer krebskrank war.
Ein Wandel ergriff mich, von dem ich glaube, das er nicht wieder rückgängig zu machen ist. Fragen des Prestiges, des politischen Erfolges, des finanziellen Status wurden auf einmal unbedeutend. In jenen ersten Stunden, als mir bewusst wurde, dass ich Krebs hatte, dachte ich nicht an meinen Sitz im Senat, an mein Bankkonto oder an das Schicksal der freien Welt … Meine Frau und ich hatten keinen Streit, seit meine Krankheit diagnostiziert wurde. Ich pflegte sie auszuschimpfen, weil sie die Zahnpasta von oben herausdrückte statt von unten her, weil sie nicht genügend für meinen sehr eigenwilligen Appetit gesorgt hatte, weil sie eine Gästeliste anfertigte, ohne mich zu fragen, weil sie zu viel für Kleider ausgab. Jetzt sind mir diese Dinge entweder nicht bewusst oder sie scheinen mir unbedeutend …
Stattdessen kam eine neue Wertschätzung von Dingen, die ich einst für selbstverständlich hielt – mit einem Freund zusammen essen gehen, Muffets Ohren kraulen und seinem Schnurren zuzuhören, die Gesellschaft meiner Frau, ein Buch oder eine Zeitschrift in dem ruhigen Lichtkegel meiner Nachttischlampe zu lesen, aus dem Kühlschrank ein Glas Orangensaft oder ein Stück Kuchen zu räubern. Zum ersten Mal glaube ich, dass ich das Leben genieße. Schließlich werde ich mir bewusst, dass ich nicht unsterblich bin. Es schaudert mich, wenn ich an all die Gelegenheiten denke, die ich mir – selbst als ich bei bester Gesundheit war – durch falschen Stolz, künstliche Werte und eingebildete Kränkungen verdarb.2
So kann die Nähe des Todes auch eine Art Befreiung sein. In seinem Schatten erhält das Leben auf einmal eine Intensität, eine Tiefe und einen Reiz, die es bis dahin nicht gehabt hat. Natürlich sind wir, wenn es so weit ist, auch verzweifelt, weil wir Abschied nehmen müssen, ähnlich wie wenn wir uns für immer von einem geliebten Menschen verabschieden müssen. Viele fürchten diese Traurigkeit. Aber wäre es nicht trauriger, wenn wir gehen müssten, ohne zuvor das Leben ausgekostet zu haben? Wäre es nicht viel schlimmer, wenn wir im Moment des Abschieds nicht Grund zur Trauer hätten?
Ich muss gestehen, dass ich lange für diese Erkenntnis brauchte. Als ich Anna bei ihrem Einzug half, ihre Bücher zu verstauen, fiel mir ein Buch mit dem Titel What the Buddha Taught (Die Lehre Buddhas) in die Hände. Verblüfft fragte ich: »Warum vergeudest du deine Zeit mit so etwas?« Im Rückblick kann ich es kaum glauben, aber meine Erinnerung trügt mich nicht: Mein Rationalismus grenzte an Beschränktheit. In meiner Kultur waren Buddha und Christus im besten Fall altmodische Moralprediger, im schlimmsten Fall Agenten zur moralischen Unterdrückung im Dienst der Bourgeoisie. Ich war fast schockiert, dass sich die Partnerin, mit der ich zusammenleben wollte, mit solchem Unsinn beschäftigte – mit diesem »Opium fürs Volk«. Anna warf mir nur einen kurzen Blick zu, stellte das Buch ins Regal und sagte: »Ich glaube, eines Tages wirst du es verstehen.«
Die große Wende
Die ganze Zeit konsultierte ich weiter Ärzte und wog das Für und Wider der verschiedenen infrage kommenden Behandlungen gegeneinander ab. Nachdem ich mich für eine Operation entschieden hatte, machte ich mich auf die Suche nach einem Chirurgen, der mir genügend Vertrauen einflößte, dass ich ihm mein Gehirn anvertrauen wollte. Schließlich entschied ich mich für einen Arzt, der vielleicht nicht unbedingt als der Spezialist mit der besten Operationstechnik galt. Aber ich hatte das Gefühl, dass er am besten verstand, wer ich war und was ich erlebt hatte. Ich spürte, dass er mich nicht im Stich lassen würde, wenn es schlecht ausgehen sollte. Er konnte nicht sofort operieren, sein Terminkalender war voll. Zum Glück befand sich der Tumor zu der Zeit nicht in einer Phase raschen Wachstums. Ich musste mehrere Wochen auf einen Operationstermin warten und las in der Zeit etliche Autoren, die sich damit beschäftigt hatten, was man aus der Konfrontation mit dem Tod lernen kann. Ich stürzte mich auf Bücher, die ich einige Wochen zuvor ungeöffnet ins Regal zurückgestellt hätte. Dank Anna, die Schriftsteller aus ihrer Heimat liebte, las ich Tolstoi, und auch dank Yalom, der ihn häufig in seinem Buch zur existentiellen Psychotherapie zitiert. Ich las zunächst Der Tod des Iwan Iljitsch und dann Herr und Knecht, das einen tiefen Eindruck bei mir hinterließ.
Tolstoi erzählt darin vom Wandel eines Gutsbesitzers, der nur seine eigenen Interessen kennt. Mit dem Vorsatz, ein überaus lukratives Grundstücksgeschäft abzuschließen, bricht der Herr in der Dämmerung ungeachtet des schlechten Wetters in seinem Schlitten auf und gerät mit seinem Knecht Nikita in einen heftigen Schneesturm. Als er erkennt, dass dies wahrscheinlich seine letzte Nacht sein wird, ändert sich seine Haltung radikal. In einer letzten, Leben spendenden Geste legt er sich auf den erfrierenden Diener, um ihn mit seiner eigenen Körperwärme zu schützen. Er stirbt, rettet aber Nikita das Leben. Tolstoi beschreibt, wie der gerissene Geschäftsmann durch diese gute Tat einen Zustand der Gnade erreicht, den er nie zuvor in seinem Leben verspürt hat. Zum ersten Mal lebt der Gutsbesitzer in der Gegenwart. Während die Kälte in ihm emporkriecht, fühlt er sich eins mit Nikita. Sein eigener Tod spielt keine Rolle, solange Nikita lebt. Jenseits des eigenen Egoismus entdeckt er eine Wahrheit, die