Das Antikrebs-Buch. David Servan-Schreiber

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Das Antikrebs-Buch - David Servan-Schreiber

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Ich weiß nur noch, dass es um den 15. Oktober herum war. Die Zeit vom 15. bis zum 20. Oktober ist deshalb etwas Besonderes für mich, ein bisschen wie Yom Kippur oder die Karwoche oder das Fasten im Ramadan. Es ist ein privates Ritual. Ich nehme mir Zeit für mich allein. Manchmal mache ich eine private »Pilgerfahrt« zu einer Kirche, einer Synagoge, einer heiligen Stätte. Ich denke darüber nach, was mir passiert ist, denke an die Schmerzen, die Angst, die Krise. Ich bin dankbar, weil ich mich verändert habe, weil ich seit meiner zweiten Geburt ein viel glücklicherer Mensch bin.

      KAPITEL 4

      DIE SCHWÄCHEN DES KREBSES

      BEI EINER KREBSERKRANKUNG befindet sich der ganze Körper im Kriegszustand. Krebszellen verhalten sich wie bewaffnete Banden, sie kennen weder Recht noch Gesetz. Die Grenzen, die ein gesunder Körper respektiert, können sie nicht aufhalten. Mit ihren anomalen Genen entziehen sie sich den Mechanismen, die das normale, gesunde Gewebe kontrollieren. Anders als andere Zellen sterben sie beispielsweise nicht nach einer bestimmten Anzahl von Teilungen ab, sondern sie werden gewissermaßen »unsterblich«. Wenn das umliegende Gewebe aufgrund der »Überbevölkerung« Alarm schlägt und den Krebszellen mitteilt, sich nicht weiter zu vermehren, ignorieren sie diese Signale. Schlimmer noch, die Krebszellen scheiden bestimmte Substanzen aus und vergiften so das Gewebe. Das Gift verursacht eine lokale Entzündung, die zum Schaden des umliegenden Gewebes die Ausbreitung des Krebses weiter fördert. Schließlich nehmen die Krebszellen wie eine marschierende Armee auf der Suche nach Proviant nahe gelegene Blutgefäße in Beschlag. Sie zwingen sie, sich zu vermehren und den Sauerstoff und die Nährstoffe zu liefern, die für das Wachstums eines Tumors benötigt werden.

      Unter bestimmten Bedingungen werden die marodierenden Krebszellen gestört und verlieren ihre Virulenz: 1. wenn das Immunsystem gegen sie mobil macht; 2. wenn der Körper sich weigert, die Entzündung zu produzieren, ohne die sie weder wachsen noch in neue Gebiete vordringen können; oder 3. wenn die Blutgefäße sich nicht vermehren und nicht die Versorgung leisten, die ein Tumor zur Entwicklung braucht. Diese Mechanismen kann man unterstützen und so verhindern, dass sich die Krankheit im Körper einnistet. Wenn sich ein Tumor erst einmal gebildet hat, kann allerdings keiner dieser natürlichen Abwehrmechanismen eine Chemotherapie oder Bestrahlung ersetzen. In Verbindung mit konventionellen Behandlungsmethoden kann man jedoch mit Hilfe dieser Mechanismen die Widerstandskraft des Körpers gegen Krebs mobilisieren.

      Teil 1

      Die Wächter des Körpers: Starke Immunzellen

      Die verheerende Kraft der S-180-Zellen

      Von allen Krebszellkulturen, die in der Forschung verwendet werden, sind die S-180-Zellen (Sarkom 180) besonders virulent. Sie stammen ursprünglich von einer einzelnen Maus aus einem Schweizer Labor, werden aber heute in großer Zahl gezüchtet und weltweit zur Untersuchung von Krebs unter identischen Bedingungen eingesetzt. Sie sind stark anomal und haben eine ungewöhnliche Chromosomenzahl. Zudem scheiden sie große Mengen an Cytokinen aus, giftige Substanzen, die beim Kontakt mit anderen Zellen deren Hülle zerstören. Wenn einer Maus S-180-Zellen injiziert werden, vermehren sich diese so schnell, dass sich die Tumormasse alle zehn Stunden verdoppelt. Sie dringen in das umliegende Gewebe ein und zerstören alles, was ihnen in die Quere kommt. In der Bauchhöhle blockiert ihr Wachstum schnell die Abflüsse des Lymphsystems. Wie in einer Badewanne mit verstopftem Abfluss sammelt sich Flüssigkeit in der Bauchhöhle, das sogenannte Bauchwasser oder Aszites. Die helle Flüssigkeit bietet für die S-180-Zellen ideale Wachstumsbedingungen, und sie vermehren sich in gefährlichem Maß weiter, bis ein lebenswichtiges Organ versagt oder ein Blutgefäß platzt und der Organismus stirbt.

      Die Maus, die resistent gegen Krebs ist

      Zheng Cui (sprich »Dschang Tsui«), Professor für Biologie an der Wake Forest University in North Carolina, untersuchte in seinem Labor nicht Krebs, sondern den Stoffwechsel von Fettsäuren. Für seine Experimente benötigte er Antikörper, und um diese zu bekommen, spritzte er Mäusen die berühmten S-180-Zellen. Die injizierten Zellen bewirkten die Ansammlung von Bauchwasser, dem man leicht Antikörper entnehmen konnte. Von den Mäusen, denen mehrere Tausend S-180-Zellen gespritzt wurden, lebte keine länger als einen Monat, daher erforderte dieses Verfahren eine ständige Erneuerung des Mäusebestands. Bis eines Tages etwas Merkwürdiges geschah.

      Tierschutz

      In diesem Buch und vor allem in diesem Kapitel ist von zahlreichen Versuchen die Rede, die an Labormäusen oder -ratten durch geführt wurden. Ich liebe Tiere und denke nicht gern daran, dass sie bei diesen Experimenten leiden müssen. Aber bislang haben weder Tierschutzorganisationen noch Wissenschaftler zufriedenstellende Alternativen für diese Experimente gefunden. Und dank der Experimente wird man viele Kinder, Männer und Frauen eines Tages effektiver und schonender behandeln können. Auch Tiere werden davon profitieren, da auch sie Krebs bekommen.

      Eine junge Forschungsassistentin, Dr. Liya Qin (sprich »Tschin«), hatte einer Mäusegruppe die übliche Dosis von 200.000 S-180-Zellen injiziert. Doch eine Maus, Maus Nr. 6, reagierte nicht auf die Injektion, der Bauch des Mäuserichs blieb flach. Liya Qin wiederholte die Injektion, wieder ohne Erfolg. Auf Anraten Zheng Cuis, der ihre Forschung überwachte, verdoppelte sie die Dosis, aber es zeigte sich nach wie vor keine Wirkung. Daraufhin injizierte sie die zehnfache Dosis, also zwei Millionen Zellen. Zu ihrer großen Verwunderung entwickelte die Maus immer noch keinen Krebs und hatte auch keine Flüssigkeitsansammlung in der Bauchhöhle. Zheng Cui begann an der Befähigung seiner Assistentin zu zweifeln und beschloss, der Maus selbst eine Spritze zu verabreichen. Sicherheitshalber injizierte er 20 Millionen Krebszellen und vergewisserte sich, dass die Flüssigkeit auch wirklich in die Bauchhöhle gelangte. Zwei Wochen später war immer noch nichts zu sehen! Er versuchte es mit 200 Millionen Zellen – das Tausendfache der üblichen Dosis –, aber es tat sich weiterhin nichts.

      Keine Maus im Labor hatte nach der Injektion von S-180-Zellen länger als zwei Monate gelebt. Maus Nr. 6 lebte nun bereits acht Monate, trotz der astronomisch hohen Dosen, die direkt in die Bauchhöhle gespritzt worden waren, weil sich die Krebszellen dort normalerweise am schnellsten vermehren. In Professor Zheng Cui keimte der Gedanke, ob er vielleicht das Unmögliche vor sich hatte – eine Maus, die resistent war gegen Krebs?

      In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wurde in der medizinischen und naturwissenschaftlichen Literatur immer wieder von Patienten berichtet, deren Krebserkrankung sich plötzlich zurückbildete und schließlich ganz verschwand, obwohl sie als unheilbar diagnostiziert worden war.1–7 Doch solche Fälle sind extrem selten, und sie lassen sich nur schwer untersuchen, weil sie unvorhersehbar sind und nicht nach Belieben wiederholt werden können. Normalerweise erklärt man sie mit einer Fehldiagnose (»wahrscheinlich war es gar nicht Krebs«) oder mit einer verspäteten Reaktion auf eine frühere konventionelle Behandlung (»wahrscheinlich hat die Chemotherapie vom letzten Jahr doch noch gewirkt«).

      Ehrlicherweise muss man bei diesen ungeklärten Remissionen jedoch einräumen, dass hier Mechanismen am Werk sind, die wir zwar noch nicht verstehen, die aber dem Wachstum der Krebszellen entgegenwirken. In den letzten zehn Jahren wurde ein Teil dieser Mechanismen entdeckt und im Labor untersucht. Professor Zheng Cuis Maus Nr. 6 brachte einen Mechanismus ans Licht: die Kraft des Immunsystems, wenn es vollständig mobilisiert wird.

      Nachdem Zheng Cui überzeugt war, dass die berühmte Maus (mittlerweile bekannt als »Mighty Mouse« oder »Supermaus«) resistent gegen Krebs war, tauchte eine neue Sorge auf. Es gab nur eine Supermaus, und eine Maus wird höchstens zwei Jahre alt. Wenn aber die Maus starb, wie konnte man dann ihre außergewöhnlichen Eigenschaften untersuchen? Und was, wenn sie sich einen Virus oder eine Lungenentzündung zuzog? Zheng Cui dachte darüber nach, die DNA der Maus zu konservieren oder die Maus zu klonen, denn kurz zuvor waren die

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