Das Antikrebs-Buch. David Servan-Schreiber
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Alle lebenden Organismen sind von Natur aus in der Lage, nach einer Verletzung ihr Gewebe zu reparieren. Bei Tieren und Menschen liegt diesem Vorgang ein Entzündungsprozess zugrunde. Discurides, ein griechischer Arzt im ersten Jahrhundert nach Christus, beschrieb die Entzündungszeichen so prägnant und einfach, dass die Definition noch immer an allen medizinischen Fakultäten gelehrt wird: Rubor, Tumor, Calor, Dolor – Rötung, Schwellung, Wärme und Schmerz. Hinter diesen schlichten äußeren Merkmalen verbergen sich komplizierte Vorgänge von großer Tragweite.
Sobald das Gewebe verletzt wird, etwa durch einen Stoß, einen Schnitt, durch Gift, eine Verbrennung oder Infektion, treten die Blutplättchen in Aktion. Sie sammeln sich um den beschädigten Abschnitt und setzen eine chemische Substanz frei, den sogenannten PDGF (Platelet-derived Growth Factor = Blutplättchen-Wachstumsfaktor). Der PDGF alarmiert die weißen Blutkörperchen des Immunsystems. Diese produzieren verschiedene Botenstoffe mit seltsamen Namen und vielen Wirkungen: Cytokine, Chemokine, Prostaglandine, Leukotriene und Thromboxane koordinieren die Reparaturvorgänge. Zunächst weiten sie die Blutgefäße in der Umgebung der Verletzung, um den Zufluss weiterer Immunzellen zu erleichtern, die als Verstärkung herbeigerufen werden. Dann versiegeln sie die Öffnung, indem sie die angesammelten Blutplättchen zur Blutgerinnung bringen. Nun machen sie das umliegende Gewebe durchlässig, damit die Immunzellen eindringen und die Angreifer verfolgen können. Und schließlich veranlassen sie das Wachstum der beschädigten Gewebezellen. Das Gewebe kann dann die fehlenden Stücke regenerieren und kleine Blutgefäße aufbauen, die Sauerstoff und Nährstoffe an die Baustelle liefern.
Diese Mechanismen sind für die Gesundheit des Körpers und seine permanente Regeneration angesichts der unvermeidlichen, ständigen Angriffe lebenswichtig. Wenn die Vorgänge richtig eingestellt und an die anderen Zellfunktionen angepasst sind, laufen sie sehr harmonisch ab und regulieren sich selbst. Das bedeutet, dass neues Gewebe zu wachsen aufhört, sobald die verletzten Stellen repariert sind. Die Immunzellen, die zur Bekämpfung der Eindringlinge mobilisiert wurden, kehren in ihren Stand-by-Modus zurück. Das ist sehr wichtig, damit die Immunzellen nicht einfach weitermachen und gesundes Gewebe angreifen.
In den letzten Jahren haben Wissenschaftler herausgefunden, dass Krebs ähnlich wie ein Trojanisches Pferd diesen Reparaturvorgang ausnutzt, um in den Körper einzudringen und ihn zu zerstören. Das sind die zwei Seiten der Entzündung: Eigentlich ist der Entzündungsvorgang dazu gedacht, beim Aufbau des neuen Gewebes zu helfen und die Heilung voranzubringen, er kann aber dazu umfunktioniert werden, das Krebswachstum zu fördern.
Wunden, die nicht heilen
Der große deutsche Arzt Rudolf Virchow gilt als der Begründer der modernen Pathologie: der Wissenschaft, die sich mit der Beziehung zwischen Krankheit und den Vorgängen im Körper und Gewebe beschäftigt. 1863 stellte er fest, dass mehrere Patienten offenbar genau an der Stelle Krebs entwickelten, wo sie einen Schlag erhalten hatten oder wo ihr Schuh oder ein Werkzeug permanent gerieben hatte. Unter dem Mikroskop fiel ihm die große Zahl von weißen Zellen im Krebsgewebe auf. Daraus entwickelte er die These, dass Krebs der aus dem Ruder gelaufene Versuch des Körpers ist, eine Wunde zu heilen. Seine Beschreibung wirkte jedoch zu anekdotisch, beinahe poetisch, und wurde deshalb nicht ernst genommen. Etwa 130 Jahre später griff Harold Dvorak, Professor für Pathologie an der Harvard Medical School, die Hypothese auf. In seinem Artikel »Tumors: Wounds that do not heal«26 (»Tumoren: Wunden, die nicht heilen«) präsentierte er einleuchtende Argumente für Virchows ursprüngliche Theorie. Dvorak erbrachte Belege für die verblüffende Ähnlichkeit zwischen natürlich hervorgerufenen Entzündungsprozessen und der Entstehung von Krebs.
Harold Dvorak stellte außerdem fest, dass mindestens jede sechste Krebserkrankung direkt mit einer chronischen Entzündung zusammenhängt (siehe Tabelle 2). Das gilt für Gebärmutterhalskrebs, der meist nach einer chronischen Infektion mit Papillomaviren auftritt, und für Darmkrebs, der sehr häufig bei Patienten gefunden wird, die an einer chronischen Darmentzündung leiden. Magenkrebs hängt mit einer Entzündung durch das Bakterium Helicobacter pylori zusammen (das auch Magengeschwüre hervorruft). Leberkrebs ist oft auf eine Infektion mit Hepatitis B oder C zurückzuführen, Mesotheliome in der Lunge auf eine von Asbest ausgelöste Entzündung, Lungenkrebs auf eine Entzündung der Bronchien, verursacht durch die zahlreichen giftigen Zusätze im Zigarettenrauch.
Fast 20 Jahre nach Harold Dvoraks bahnbrechendem Artikel veröffentlichte das amerikanische National Cancer Institute einen Bericht über die Forschung zu Entzündungsprozessen, die von Onkologen immer noch allzu oft ignoriert werden.28 Darin wird ausführlich beschrieben, wie die Krebszellen die Heilungsmechanismen des Körpers in die Irre führen. Um wachsen zu können, müssen sie eine Entzündung auslösen. Dazu produzieren sie in großen Mengen die gleichen hochentzündlichen Substanzen (Cytokine, Prostaglandine und Leukotriene), die bei der natürlichen Wundheilung zum Einsatz kommen.V Diese wirken als chemischer »Dünger« und fördern das Zellwachstum, in diesem Fall das Wachstum der Krebszellen. Wachsende Tumoren brauchen die Substanzen, um sich zu entwickeln und das umliegende Gewebe durchlässiger zu machen. So nutzen Krebszellen einen Vorgang, der eigentlich dem Immunsystem die Heilung von Wunden und Verfolgung von Eindringlingen ermöglicht, für ihre eigene Verbreitung und Vermehrung. Mithilfe der von ihnen hervorgerufenen Entzündung dringen sie in das umliegende Gewebe ein, gelangen ins Blut, wandern durch den Körper und gründen ferne Kolonien, die Metastasen.
Tabelle 2: Verschiedene Krebsarten, die direkt mit Entzündungen zusammenhängen (aus dem Artikel von Balkwill und Mantovani in Lancet, 2001).27
Krebsart | Entzündungsursache |
Malignes Lymphom (Lymphknotenkrebs) | Helicobacter pylori |
Bronchialkarzinom | Siliziumdioxid, Asbest, Zigarettenrauch |
Mesotheliom | Asbest |
Speiseröhrenkrebs | Barrett-Syndrom |
Leberkrebs | Hepatitisviren (B und C) |
Magenkrebs | Durch Helicobacter pylori verursachte Gastritis |
Kaposi-Sarkom | Humane Herpesviren Typ 8 |
Blasenkrebs | Bilharziose |
Darmkrebs | Chronische Darmentzündungen |
Eierstockkrebs | Entzündliche Beckenerkrankungen, Kontakt mit Talkum,Gewebeumbau (»tissue remodeling«) |
Gebärmutterhalskrebs | HPV (Humane Papillomaviren) |
Der Teufelskreis im Zentrum des Krebses
Bei normal heilenden Verletzungen endet die Produktion der entzündlichen chemischen Substanzen, sobald das Gewebe wiederhergestellt ist. Bei einer Krebserkrankung werden die Stoffe dagegen kontinuierlich produziert. Zudem blockieren die überschüssigen Entzündungsstoffe im umliegenden Gewebe einen natürlichen Vorgang, die sogenannte Apoptose, den »Selbstmord« einer Zelle. Die Apoptose ist jeder Zelle genetisch einprogrammiert und soll eine Überproduktion von Gewebe verhindern. Auf das Signal hin, dass genügend Zellen für die Bildung gesunden Gewebes vorhanden sind, kommt es normalerweise zur Apoptose. Krebszellen dagegen stimulieren nicht nur ihr eigenes Wachstum, sondern sind durch die Blockade auch vor dem eigenen Tod geschützt. Die Kombination dieser beiden Faktoren sorgt dafür, dass sich ein Tumor allmählich ausbreitet.
Durch die Ankurbelung der Entzündung sorgen Tumoren noch für eine weitere Störung. Sie »entwaffnen« die Immunzellen in ihrer Umgebung. Einfach ausgedrückt bringt die Überproduktion von Entzündungsfaktoren die benachbarten weißen Blutkörperchen völlig durcheinander.29, 30 Die natürlichen Killerzellen und andere weiße Blutkörperchen werden neutralisiert. Sie versuchen nicht einmal mehr, den Tumor zu bekämpfen, der direkt neben ihnen gedeiht und immer größer wird.31
Die treibende Kraft bei einem Tumor ist demnach ganz wesentlich ein durch die Krebszellen