Blutsverwandtschaft. Sylvia Giesecke

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Blutsverwandtschaft - Sylvia Giesecke страница 2

Автор:
Серия:
Издательство:
Blutsverwandtschaft - Sylvia Giesecke

Скачать книгу

Kindheit hatte, … hm, … ich glaube schon. Es gab und gibt bestimmt viel schlimmere Kinderstuben, als die Meinige. Außerdem liebte ich meine Familie trotz aller Widrigkeiten wirklich sehr. Meine Mutter war eine sehr sanfte, zerbrechliche, aber relativ gerechte Frau. Wohingegen mich mein heroischer Vater ständig um seine Anerkennung buhlen ließ, … natürlich ohne jegliche Chance, sie irgendwann einmal zu bekommen. Möglicherweise lag es an seinem Beruf. Inzwischen weiß ich ja selber, dass einen die ständige Konfrontation mit dem Tod irgendwann erstarren lässt. Dennoch hätte er mir eine Chance geben müssen, wenigstens eine klitzekleine. Für mich war er wie der Mount Everest, ein mächtiger Berg, den ich unmöglich erklimmen konnte. Trotzdem liebte, verehrte und bewunderte ich ihn über alle Maßen. Wie ein hungriger Kater vorm Mauseloch lag ich ununterbrochen auf der Lauer. Geduldig wartete ich auf eine Gelegenheit, um mich endlich einmal beweisen zu können. Ich sollte meine Gelegenheit tatsächlich bekommen. Allerdings entpuppte sich das Mäuschen schon bald als ausgewachsene Bisamratte.

      ***

      Anstatt diesen glühend heißen Dienstag ganz entspannt irgendwo am Strand zu verbringen, zog es der Rest der Familie vor, einen Ausflug in die Berge zu machen. Auf dem Rückweg wurden wir von einem heftigen Gewitter überrascht. Während mein Vater gegen gewaltige Wassermassen und unbarmherzige Sturmböen ankämpfte, hatte meine Schwester nichts Besseres zu tun, als in einer Tour zu stänkern. Ihre Geburtstagsgeschenke mussten unbedingt größer sein als die Meinigen und genau diese Banalität brachte den Unglücksstein ins Rollen. Eigentlich ist es kaum vorstellbar, dass eine solche Lächerlichkeit für das Schicksal einer ganzen Familie verantwortlich sein sollte, aber die Dinge nahmen unaufhaltsam ihren Lauf. Nach einer sehr intensiven Diskussion zwischen uns beiden löste sie plötzlich ihren Sicherheitsgurt und fiel unserem Vater von hinten um den Hals. Sie erwischte ihn dabei derart unglücklich, dass er laut stöhnend das Lenkrad verriss. Unser Wagen geriet ins Schleudern, ehe er schließlich über den unbefestigten Straßenrand hinausschoss. Im selben Moment umschloss mich eine Dunkelheit, aus der ich, im Nachhinein betrachtet, besser nie mehr erwacht wäre.

      Als ich die Augen aufschlug, brauchte ich einen Moment, um zu realisieren, was geschehen war. Ein widerlicher, warmer Geruch beherrschte die Luft und mir wurde schlagartig übel. Heute weiß ich, dass es an dem vielen Blut und den Exkrementen lag. Damals jedoch kam ich nicht umhin der Geruchssituation noch die Krone aufzusetzen, indem ich mich erst einmal heftig übergab. Dann hörte ich die Stimme meines Vaters oder vielmehr sein röchelndes Flüstern, „Bist du verletzt, Junge?“

      Ich schnallte mich ab. Dem Augenschein nach hatte ich keinerlei ernsthafte Verletzungen davongetragen. Lediglich Nacken und Brust schmerzten ein wenig. „Ich glaube, ich bin soweit in Ordnung. Was ist mit euch?“

      Meine Frage blieb unbeantwortet. „Hör zu, Leonhard, ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich will, dass du mir etwas versprichst.“ Er musste husten und stöhnte vor Schmerz. Ich beugte mich vor und wurde mit einem Anblick konfrontiert, der mir komplett den Atem verschlug. Alles war voller Blut. Meine Mutter lag regungslos auf dem Beifahrersitz. Beine und Unterleib schienen vollkommen zerquetscht zu sein und ihr ehemals strahlend weißes Sommerkleid leuchtete wie ein Klatschmohnfeld im Sonnenschein. Meinen Vater hatte ein ähnliches Schicksal ereilt, nur dass er zudem auch noch die Last meiner Schwester tragen musste. Sie saß auf seinem Schoß, hatte sich fest an ihn gekuschelt und erschwerte ihm sichtlich das Atmen.

      Ich war entsetzt, „Bist du irre, Jule, komm da sofort runter!“

      Aber was redete ich überhaupt? Sie hatte bis dato immer ihren Willen bekommen und daran sollte sich selbst im Angesicht des Todes nichts ändern. „Lass das Julchen in Ruhe, Junge, und hör mir endlich zu“, er hustete erneut. „Versprich mir, dass du dich um deine Schwester kümmern wirst, egal was passiert. Du musst es mir bei deinem Leben schwören, … willst du das tun?“

      In meiner kindlichen Naivität verkannte ich die Ernsthaftigkeit dieser Situation und glaubte nach wie vor fest an unser aller Rettung. Ich hielt das Ganze für eine Art Spiel und hatte nicht die geringste Ahnung, worauf ich mich einlassen würde. Außerdem ließ der Stolz meine Brust schon ein wenig anschwellen, weil mein übermächtiger Vater mich zum allerersten Mal um etwas bat. Endlich betraute er mich mit einer Aufgabe, endlich traute er mir mal etwas zu. Da lag es doch auf der Hand, dass ich wirklich alles daran setzen wollte, um seinen hohen Ansprüchen gerecht zu werden. „Du kannst dich auf mich verlassen, Papa. Ich werde mich gut um Jule kümmern.“

      Es reichte ihm nicht, „Schwöre es bei deinem Leben.“ Er spuckte Blut.

      Zwar fand ich es dann doch etwas übertrieben, ging aber dennoch auf seinen Wunsch ein, „Ich schwöre es bei meinem Leben.“

      „So ist es gut.“ Er spuckte ein weiteres Mal Blut und starb.

      Ich packte ihn bei der Schulter, „Papa? Bitte, Papa, wach auf.“ Wieder und wieder versuchte ich ihn zu wecken, ehe ich mich mutlos zurückfallen ließ. Nach einem endlosen Moment des Schweigens besann ich mich meiner Aufgabe. Meine Schwester schwamm im Blut ihres Vaters und ich wollte nicht, dass sie darin ertrank. „Komm her, Jule, wir müssen versuchen hier rauszukommen und Hilfe holen.“

      „Lass mich in Ruhe.“

      Ich packte sie am Handgelenk, „Du kannst da nicht sitzen bleiben, … jetzt komm endlich her.“ Sie fing derart laut an zu schreien, dass ich nicht umhin kam, sie sofort wieder loszulassen. In diesem Augenblick wurde ich zum ersten Mal mit der Unmöglichkeit meines Erbes konfrontiert und fühlte mich ziemlich überfordert. „Jetzt lass doch den Quatsch und komm bitte her.“

      „Lass mich in Ruhe.“

      Die Monotonie ihrer Stimme machte mir Angst. Mein Instinkt sagte mir, dass jede Sekunde, die sie auf dem Schoße unseres toten Vaters verbringen würde, ein großes Stück ihrer kleinen Seele verschlang. Ich musste handeln und das sofort. Doch ich geriet ein weiteres Mal an meine Grenzen, denn mein Vater hatte den Wagen äußerst ungünstig positioniert. Die umliegenden Felsen und die vorherrschende Gesamtsituation ließen einen Ausstieg einfach nicht zu. Also blieb uns nichts anderes übrig, als der Dinge zu harren und auf Rettung zu warten.

      Es dauerte ganze drei Tage, bis man uns schließlich fand und noch mal unzählige Stunden, bis man uns endlich aus dem stinkenden Wrack befreien konnte. Meine Schwester klammerte sich an den Leichnam unseres Erzeugers und schrie wie am Spieß. Aber warum sollte es den Feuerwehrleuten auch besser ergehen als mir? Es brauchte zwei gestandene Männer, um diese ungesunde Verbindung zu lösen. Doch so schnell gab das Julchen nicht auf. Sie schlug um sich, kratzte und biss einem der Männer kräftig in den Arm. Jetzt schrien die beiden um die Wette und mir wollte jeden Moment der Schädel platzen. Schließlich setzte einer der Sanitäter dem Spektakel ein Ende, indem er meiner Schwester eine Spritze ins Hinterteil rammte. Kurz darauf verstummten ihre Schreie und ich konnte endlich entspannt das Bewusstsein verlieren.

      ***

      Nach einigen wenigen Tagen im Krankenhaus durften wir wieder nach Hause. Man entließ uns in die Obhut unserer Großeltern, mit denen wir sowieso schon seit jeher unter einem Dach lebten. Das großzügige und wirklich wunderschöne Herrenhaus, das wir gemeinsam bewohnten, lag in einer kleinen parkähnlichen Anlage. Weitab vom tobenden Leben irgendwelcher Großstädte. Während meine kleine Schwester unablässig ihre Langeweile pflegte, genoss ich die Stille und den malerischen Frieden, den diese Umgebung zu jeder Jahreszeit ausstrahlte. Ich liebte mein Zuhause über alles, auch wenn gleich nebenan der Tod residierte. Nur wenige Schritte vom Wohnhaus entfernt befand sich ein weiteres, wesentlich kleineres Gebäude. Dort hatten mein Vater und mein Großvater in trauter Zweisamkeit für den Lebensunterhalt unserer Familie gesorgt, indem sie überteuerte Särge verkauften und möglichen Hinterbliebenen ein Quäntchen Trost spendeten. Und was

Скачать книгу