Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig

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Rasante Zeiten - 1985 etc. - Stefan Koenig Zeitreise-Roman

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nebulöse astrologische Voraussagen für 1985. Der amerikanische Präsident würde ermordet; Erich Honecker würde gestürzt; Helmut Kohl würde sich scheiden lassen; ein Sonnensturm würde die Stratosphäre durcheinanderwirbeln und zu nervösen Störungen führen.

      „Noch mehr nervöse Störungen?“, fragte meine Mutter, und wir lachten und schworen uns, diesmal alle Voraussagen zu notieren, um sie Ende des kommenden Jahres auf ihre Trefferquote zu überprüfen. Dann schalteten wir auf den allerletzten Drücker den Fernseher an.

      Der ARD-Moderator zählte gerade die Sekunden, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei zwei, eins, und der Zeiger sprang auf null Uhr. Das Orwell-Jahr war zu Ende. Die Mittachtziger begannen.

      1985 & die Generation Golf

      Lutz kam aus Berlin zu Besuch. Aus dem pubertären Jungen war ein sechsundzwanzigjähriger Mann geworden. Früher hatten die siebeneinhalb Jahre, die zwischen uns lagen, eine enorme Distanz bedeutet. Jetzt waren die paar lächerlichen Jährchen bedeutungslos. Wir hatten uns seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Er hatte sich stark verändert, war schlank, hochgewachsen, trug Dreitagebart, schicke Klamotten und fuhr einen Golf.

      „Ah, Generation G.!“, sagte ich, und in meiner Stimme schwang wohl etwas Mehrdeutiges, vielleicht sogar Skepsis mit.

      „Nein, ich gehöre nicht zur Generation Golf“, erwiderte Lutz so bestimmt, dass ich beruhigt war.

      Wir standen an seinem silbergrauen fahrbaren Untersatz, und ich seufzte ein erleichtertes, hörbares „Uff, gut so!“

      „Zu ihr gehören die zwischen 1965 und 1975 Geborenen. Nina zum Beispiel gehört eher dazu.“

      „Eine ziemlich verwöhnte Generation“, antwortete ich beiläufig, wobei mir die Erwähnung von Nina im Hinterkopf blieb. Lutz war einmal Ninas, fast acht Jahre älterer, beschützender Freund gewesen. Beinahe hätte er sich damals in seine kleine Nachbarin verliebt, doch dazu war sie zu jung. Immerhin hatte er ihre Not bemerkt. Schließlich hatte Lutz in seiner Pubertät ebenso mit seiner Mutter über Kreuz gelegen, hatte den geschiedenen Vater vermisst und verflucht und war ausgebüxt.

      Ich lotste ihn jetzt samt seines altbewährten Seesacks, den ich noch aus San Francisco kannte, ins Haus, wo er Emma und die Kinder herzlich begrüßte.

      Später saß ich alleine mit ihm am Kamin, während an diesem Abend Emma den Kindern aus einem unserer vielen Kinderbücher vorlas und die Bilder erklärte. Diesmal waren es weder Bauernhof- noch Tierbilder. Es war auch nicht das erst vor vier Wochen noch höchstbeliebte Weihnachtsbilderbuch. Ich hatte auf dem Heimweg von meinem Arbeitsplatz an der Frankfurter Uni bei der Kollektiv-Buchhandlung in der Goethestraße ein brandaktuelles Bilderbuch gekauft. In meinen Augen ein fortschrittliches und zeitgemäßes Bilderbuch, kein altbackenes. Es war von Erhard Dietl und hieß »Die Olchis. So schön ist es im Kindergarten«.

      Aber Emma hatte gemeint, das Buch sei noch nichts für unsere beiden, sie lese lieber aus dem romantischen Winterbilderbuch mit Rodeln und Schneeballschlacht und Schneemann vor.

      „Gute Idee“, antwortete ich, und das war es auch. Dennoch war ich ein wenig enttäuscht.

      Emma sah es mir wahrscheinlich an, denn sie sagte: „Die Olchis und der Kindergarten – das ist ein bisschen vorgegriffen, ein wenig zu früh, aber gut gemeint. Vielleicht ist es etwas im nächsten Jahr für Karola. Was wir aber demnächst unbedingt machen sollten: Karola, ebenso wie Luca, im Kindergarten anmelden. Da bestehen lange Wartelisten, wie mir Gitti sagte. Zwei Jahre Anmeldefreist oder so. Dürfen wir nicht vergessen!“

      Jetzt hörten Lutz und ich am Kamin das Prasseln und Knistern des brennenden Holzes, wie damals in Berlin.

      „Hast du etwas von ihr gehört?“, fragte ich.

      „Von wem?“ Lutz sah mich mit seinen braunen großen Augen fragend an.

      „Von Nina. Entschuldigung, tut mir leid, sorry, sorry, ich müsste wissen, dass zu deiner Schulzeit Gedankenlesen noch nicht im Fächerkanon vertreten war.“

      „Ich würde jetzt gerne als Parapsychologe über ein Medium mit Nina in Kontakt treten. Denn ich habe seit zwei Jahren nichts mehr von ihr gehört. Du könntest mein Medium sein.“

      „Ich?“

      „Na klar, du hattest mich doch gebeten, von Doro – von der ich dich und Emma grüßen soll – die Aufzeichnungen über Nina mitzubringen. Ich habe den verschlossenen Umschlag noch im Auto. Soll ich ihn holen, Mr. Medium?“

      „Nein, danke, lass mal, morgen reicht auch noch. Du wirst nach der langen Fahrt müde sein. Lass uns lieber ins Bett gehen. Wir schauen uns das, was Doro mitgegeben hat, ein andermal an.“

      Aber Lutz war gewissenhaft und holte Doros Umschlag doch noch aus seinem Golf. Ich legte ihn zur Seite. Die Sache konnte warten.

      Ich lag im Bett und natürlich ging mir die Geschichte von Nina noch einmal durch den Kopf.

      Nina war seit ihrem vierzehnten Lebensjahr immer wieder mit Drogen in Berührung gekommen. Zuerst war es Cannabis, dann kamen Unmengen chemischer Aufputschmittel dazu, später LSD. Und mit der Babystrich-Prostitution war Heroin ins Spiel gekommen. Jetzt musste Nina gewiss schon zwanzig sein – wenn sie denn noch am Leben war. Die Unterlagen, die meine frühere langjährige Berliner Freundin Doro mit Lutz für mich auf den Weg gebracht hatte, enthielten die Protokolle aus der Bahnhof-Zoo-Zeit. Damals, Anfang der Achtziger, war Doro in ihrem Sozialpraktikum mit Nina in Kontakt gekommen.

      Am nächsten Vormittag, als Lutz noch schlief, blätterte ich in den Skripten herum und mein Auge fiel auf den Namen »Narconon« und auf das Jahr 1982. Meiner Erinnerung nach war Narconon damals ein von einer radikal-autokratischen Sekte gesteuertes Therapiehaus gewesen, mit Hang zur autoritären Unterdrückung der individuellen Persönlichkeit und mit leidenschaftlichem Hang zum Führerprinzip. Ihr Führer, der US-amerikanische Science-Fiktion- und Pulp-Magazin-Autor L. Ron Hubbard, wurde dort wie ein Halbgott gehandelt. Er hatte die Sekte aus Interesse für Okkultismus und Magie gegründet. Träger der Westberliner suchttherapeutischen Einrichtung war sein Verein, die Scientology Church.

      Nina hatte Doro damals von ihrem Kampf um einen therapeutischen Drogenplatz berichtet. Es war das Gespräch mit einer Drogenberaterin, die Nina wohlgesonnen war.

      Ich las: „Die Drogenberaterin sagte, es gäbe in ganz Berlin keine freien Therapieplätze. Erst atmete ich auf, weil ich eigentlich einen ziemlichen Bammel vor diesen Therapien hatte. Sie waren unheimlich hart, erzählte man auf der Szene. Die ersten Monate sollten schlimmer als im Gefängnis sein. Bei einigen musste man sich sogar eine Glatze schneiden lassen. Wahrscheinlich sollte man auf diese Weise den ernsthaften Willen zum Neubeginn beweisen.

      Ich war mir sicher, dass ich das nicht bringen könnte, wenn ich wie Kojak rumlaufen musste. Meine langen Haare waren mir heilig; dahinter konnte ich mein Gesicht verstecken. Haare abschneiden oder mir die Pulsadern aufschneiden, das war für mich dasselbe. Die Drogenberaterin riet mir von Narconon ab, als ich ihr erzählte, dass einige Fixer schon bei Narconon waren und meinten, der Laden sei voll in Ordnung. Sobald man eine Vorauszahlung geleistet hatte, wurde man bedingungslos aufgenommen, so wie man war, in all den Fixerklamotten und sogar mit eigenen Psychedelic-Rock-Schallplatten.“

      In Doros Aufzeichnungen fand sich der Hinweis, dass die Drogenberaterin genau aus diesem Grund zu Nina gesagt hatte: „Denk mal gründlich darüber nach, warum so viele Fixer dieses Zentrum dufte finden! Ich

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