Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig
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Aber der Typ lächelte nur und brachte mich nach einer Weile tatsächlich dazu, weiterzumachen. Ich sollte dann auch Inventar berühren und statt Kniebeugen einen Expander zehn Mal ziehen, bis ich wirklich nicht mehr konnte und mich vor Erschöpfung auf den Boden warf und einen Heulkrampf bekam.
Jetzt sollte ich rufen »Ich bin frei! Ich bin frei!«
Der Typ lächelte weiter, und als ich mich beruhigt hatte, befahl er mir weiterzumachen, was ich wie in Trance auch tat und dabei schon sein aufdringliches irres Lächeln übernommen hatte. Irgendwann spürte ich nichts mehr, rein gar nichts mehr. Nach mehr als fünf Stunden war Schluss, und ich glaube, dass ich es auch keine Sekunde länger ausgehalten hätte.
»Ich habe eine erholsame Überraschung für dich«, sagte der therapeutische Komiker und führte mich in ein Nebenzimmer. Dort stand auf einem Tisch ein merkwürdiges Gerät mit einer Nadel, die zwischen zwei Blechbüchsen hin und her pendeln konnte. Ich musste die Büchsen anfassen, und der Typ fragte, ob ich mich wohl fühle.
Ich bejahte und betonte, wie entspannt ich jetzt sei und wie ich alles sehr viel intensiver erleben würde.
Mein komischer Therapeut starrte gebannt auf die Nadel. »Es hat sich nicht bewegt, das spricht für dich. Du sagst also die Wahrheit. Das heißt, dass die Session ein Erfolg war.“
Das merkwürdige Gerät war so etwas wie ein Lügendetektor, ein Kultgerät der Scientologen, das sie immer wieder zum Einsatz brachten, um angebliche Lügen aufzudecken. Ein wahres Einschüchterungsinstrument. Jedenfalls war ich beruhigt, dass ich die Session erfolgreich hinter mir hatte und sie nicht wiederholen musste. Das Pendel, das mich in der kommenden Nacht im Traum verfolgte, hatte nicht ausgeschlagen! Danach fragte mich dann auch meine Zimmergenossin, und als ich ihr von meinem Erfolg und dem Pendel berichtete, bekam sie einen genauso irren Lachanfall, wie mein Therapeut jedes Mal ein völlig irres Lächeln im Gesicht hatte.“
Als ich die Sichtung von Doros Unterlagen an dieser Stelle unterbrach, weil Lutz zum Frühstück herunterkam, musste ich unwillkürlich wieder einmal an George Orwells »1984« denken, an die dort beschriebenen sinnlosen und quälenden Gymnastikübungen zur angeblichen Aufmunterung des Geistes der Ministeriumsmitarbeiter, was tatsächlich weniger der Aufmunterung als der Abstumpfung und Verblödung diente. Dazu diese unerträglichen ideologischen Tageslosungen, durchmischt mit Slogans von Freiheit und Glück. Irre, einfach nur irre!
*
Am 1. Januar des neuen Jahres startete das erste private Satelliten-Fernsehprogramm »SAT 1«. Es finanzierte sich, anders als die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ARD und ZDF, ausschließlich aus Werbeeinnahmen. So wurden die Filme nun ständig von eingeblendeten Werbespots unterbrochen. Emma und ich sahen irgendeinen mistigen Hollywoodfilm. Es war ein Grauen. So oft konnte kein Mensch pinkeln, wie für Oetkers Suppen und Puddingpulver oder für eine Hustenpille aus dem Haus des Pharmakonzerns Bayer geworben wurde.
„Mit SAT 1 hat das Großkapital wieder ein Sprachrohr mehr“, sagte ich beim Abendessen.
„Howgh, Treffer theoretisch gelandet, aber praktisch gesehen: U-Boot taucht ab und fährt weiter“, antwortete Emma.
Großes Kapital zieht großes Kapital an, dachte ich. „Großkapital ist wie ein Magnet“, hatte einer unserer jungen Professoren im volkswirtschaftlichen Teil meines Studiums erläutert und auf Marxens Theorie von der Akkumulation des Kapitals und der Monopolbildung verwiesen. Jetzt vereinigten sich zwei Giganten zu Supermonopolen; die zwei größten Stahlunternehmen der Bundesrepublik, Krupp Stahl und Klöckner, schlossen sich zu einem Unternehmen mit 43.000 Mitarbeitern zusammen.
„Hätten sich auch Oetker und der Pharmakonzern Bayer zusammengeschlossen, würden all die Suppen und Soßen wahrscheinlich nicht viel anders schmecken“, sagte ich. „Da ist doch überall Chemie drin.“
„Howgh, wieder mal Treffer gelandet, und praktisch gesehen bedeutet es für uns: Suppen selber zubereiten und kein Fertigzeugs auf den Tisch“, antwortete Emma.
Mitte Januar wurde erstmals seit Bestehen der BRD im Ruhrgebiet Smog-Alarm der Stufe III ausgerufen. Es bedeutete ein absolutes Fahrverbot für Kraftfahrzeuge mit Verbrennungsmotoren. Der Krupp-Husten, der seinen Namen dem Krupp-Stahl-Konzern aus dem smoggebeutelten Essen verdankte, ließ grüßen.
In London begrüßte die Welt das »Baby Cotton«. Zum ersten Mal wurde ein Kind auf Bestellung von einer Leihmutter, Kim Cotton, ausgetragen. Die Samen stammten im Rahmen einer künstlichen Befruchtung vom Auftraggeber. Nach der Geburt wurde das Baby gegen eine Zahlung von umgerechnet 24.760 D-Mark an die Auftraggeber übergeben. Das oberste Gericht Großbritanniens gestattete dies. Rund um die Welt wurde daraufhin diskutiert. Der Fall löste auch in der Bundesrepublik heftige Diskussionen aus. Vier Jahre später wurde das Embryonenschutzgesetz verabschiedet, das die Leihmutterschaft verbietet.
Ein anderes Leihgeschäft war inzwischen groß ins Rollen gekommen – in Videotheken florierte das Geschäft mit dem Verleih von Filmen auf Videokassetten. Nun standen 3.664 Kinos mit 125 Millionen Besuchern nicht weniger als 4.850 Videotheken mit 128 Millionen entliehenen Videos gegenüber. Es dominierte der Verleih mit einem Preis zwischen zwei und fünf Mark pro Film, während Kaufkassetten noch die Ausnahme blieben.
Und eine weitere schnuckelige Leihgabe kam ins Gerede. Die Bundesregierung bestätigte erstmals offiziell die Existenz nuklearer Kleinkampfmittel der US-Armee auf deutschem Boden, neben den Big Bombs, den Atom-Eiern, welche die US-amerikanische Luftwaffe dem rheinland-pfälzischen Örtchen Büchel ins Nest gelegt hatte. Auf diese Leihgabe konnte man wahrlich verzichten, dagegen war »Baby Cotton« ein echtes Gottesgeschenk.
Mein Freund Hörbi besuchte mich an meinem Uni-Arbeitsplatz. Als ich mit ihm beim Tee das leidige Atomwaffenthema erörterte, fragte er: „Seit wann so pessimistisch?“
„Seit ich Vater bin. Da wird man noch unduldsamer als vorher.“
„Lass dir den Optimismus nicht verderben. Dein Humor hat dich bisher doch gut durchs politische Leben gebracht.“
Da fiel mir ein Spruch meines verstorbenen Karnevalsonkels mit dem irgendwie sehr blöden und historisch verpönten Namen »Adolf« ein – ich glaube, Onkel Adolf hatte unter seinem Namen nach dem Krieg arg gelitten. Onkel Adolfs Spruch musste ich Hörbi gleich unter die Nase reiben.
Der Pessimist sagt: „Schlimmer geht’s nicht!“
Der Optimist antwortet: „Oh doch!“
„Es gibt aber auch echt Gutes zu berichten“, meinte Hörbi. „Und das lässt einen wirklich etwas optimistischer in die Welt gucken.“
„Nämlich?“
„Nämlich, dass das Saarland gerade als erstes Bundesland den Umwelt- und den Datenschutz in seine Landesverfassung aufgenommen hat. Und dass der Bundestag vorgestern alle Urteile des früheren NS-Volksgerichtshofs endlich für nichtig erklärt hat.“
AKW tut weh
Am nächsten Wochenende schien die Sonne. Eigentlich wollten wir Emmas Eltern und die 14-köpfige Verwandtschaft in Franken besuchen – wegen irgendeines Geburtstages. Aber es war an diesem Samstag viel zu kalt. In der Nacht war das Thermometer auf unter minus zehn Grad gefallen. Am Vormittag waren