Utopia - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider
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„Gemeinschaftskunde“, wirft Karina ihr Hassfach mit in den Topf.
Es zeigt, wie unterschiedlich wir sind und es macht mich traurig. Ich muss wieder losheulen. Doch dieses Mal ist es ein tieferes Gefühl der Erkenntnis, das die Tränen fließen lässt. Das, was gerade passiert, was sich vor wenigen Sekunden unglaublich ungerecht angefühlt hat, hat eine Existenzbasis.
Ich hasse Mathe, Noem liebt Zahlen.
Karina hasst Gemeinschaftskunde, während es zu meinen Lieblingsfächern gehört. Was für Karina sinnloses Gequatsche ist, entführt mich in andere Welten, die greifbar nahe sind. Verschiedene Arten des Zusammenlebens faszinieren mich und ich freue mich darauf, sie eines Tages mit eigenen Augen sehen und erfahren zu dürfen. Mit Menschen zu reden, die so vollkommen anders aufgewachsen sind als ich.
Ich kann es nicht erwarten, die Ähnlichkeiten zwischen den Unterschieden zu entdecken. Und dieser Gedanke ist es, der mich etwas beruhigt. Wenn ich es wirklich wollen würde, könnte ich an Karinas oder Noems Seite bleiben. Doch das würde bedeuten, dass ich dafür ein großes Stück von mir selbst aufgeben müsste.
Wenn ich bei Karina bleibe, werde ich zwar Zeit mit ihr verbringen, aber der Gedanke ständig nur zu trainieren, um immer schneller rennen, springen oder werfen zu können, erfüllt mich mit Unruhe. Ich bin nicht gut in Sport. Mir fehlt der Ehrgeiz. Ich finde nichts an dem Gedanken, am schnellsten laufen zu können.
Wenn ich bei Noem bleibe, würde ich in einer Welt aus Zahlen und Bildschirmen untergehen. Ich bewundere sein Streben danach, eigene Programme schreiben zu können, anstatt auf die existierenden Standards zurückzugreifen. Doch das geht über meinen Horizont hinaus. Ich verstehe jetzt schon nicht mehr, was er mit seinen Hologrammen anstellt. Wie sollte es erst werden, wenn die Materie vertieft wird?
Nein, keines der beiden Interessenfelder sagt mir zu. Ich bin nicht dafür geeignet. Weder für Sport noch für Computer.
Allerdings gab es in der Zeit, die wir zusammen verbracht haben, sicher etwas, das wir gerne gemeinsam getan haben – von Matschessen mal abgesehen. Es gibt bestimmt etwas, das uns verbindet.
„Können … können wir auch etwas zusammen mögen?“, schluchze ich und Karina nimmt mich lachend in den Arm. Kurz fühle ich mich geborgen. Als sie sich von mir entfernt, ist der Schmerz jedoch noch größer. Ich will wieder weinen. Doch ich reiße mich zusammen, schlucke die Angst herunter, die ich jetzt erkenne. Es ist nicht nur, dass ich Karina und Noem nicht verlieren will: Vor allem aber möchte ich nicht alleine sein.
Das vollkommen Fremde macht mir Angst. Im Fremden jedoch liegt, wenn man den Mut findet danach Ausschau zu halten, Vertrautes.
Und so gehen wir, jeder mit Aufregung, Angst und einem Traum im Herzen, in verschiedenen Richtungen die Schulgänge entlang.
Karina geht zum Sport.
Noem geht zum Programmieren.
Und ich? Ich gehe in Richtung Kunst.
Nanny folgt mir schweigend. Ein Teil von mir wünscht sich, dass sie mich in den Arm nehmen würde. Doch dafür würden die anderen mich auslachen. So wie Noem mich immer deswegen auslacht. Während das bei Noem noch in Ordnung ist, will ich dagegen nicht, dass die anderen Kinder über mich lachen.
Nanny nimmt mich bei der Hand.
Ich versteife mich kurz, finde jedoch Sicherheit in der kalten, vertrauten Textur.
Warum können wir nicht weiterhin in bunt zusammengewürfelten Gruppen spielen und lernen? Warum muss man uns bewerten, aufteilen und nach Daten zusammensetzen? Die Zweifel ergreifen wieder von mir Besitz, spülen die Erkenntnis, die mich vor einigen Momenten noch erfüllt hat, hinfort.
Nanny sagt, damit wir besser lernen können. Kinder um uns haben, die wie wir sind, die gleichen Interessen teilen und dasselbe lernen wollen.
Es klingt logisch. Wie alles, was Nanny sagt. Doch als ich in die Runde blicke und mir keines der Gesichter bekannt vorkommt, will ich zurück zu Karina, auch wenn sie mich bemuttert und nicht als gleichrangig betrachtet. Ich will zurück zu Noem, der mich ständig ärgert und an meinen Zöpfen zieht.
Niemand in der Runde sieht so aus, als würde er an meinen Zöpfen ziehen wollen, oder mir sagen, was ich wie machen soll. Meine Hand umklammert Nannys stärker.
Sie beugt sich zu mir herunter und flüstert mir ins Ohr: „Sei tapfer, meine kleine Avna. Änderungen sind gut. Sie erweitern dein Wissen, deine Fähigkeiten und deinen Blickwinkel, die Welt zu sehen. Sie lassen dich wachsen. Und ich werde immer bei dir sein.“
Und doch lässt sie meine Hand los und geht fort. Nicht weit. Ich kann sie noch sehen. Dennoch fühle ich mich einsam.
Nanny reiht sich zu den anderen LEEs an der Wand ein. Ihre Körper haben fast die gleiche Farbe wie der Hintergrund, vor dem sie stehen, und für einen Augenblick kann ich Nanny nicht ausmachen, weiß nicht, wer mich, seit ich mich erinnern kann, von den bewegungslosen LEEs begleitet.
Die LEEs sehen nicht gleich aus, sie haben spezifische Merkmale und andere Gesichtsformen. Längere oder kürzere Beine und Arme, verschiedene Körperformvarianten. Sie sind Erwachsenen in ihren Proportionen ähnlich und bewegen sich flüssig wie Menschen, ohne jedoch einen Laut zu erzeugen.
Die Textur ihrer Oberfläche ist glatt und kühl. Wenn auch nicht so weich wie meine eigene Haut, ist sie flexibel und nicht hart. Sie haben die Farbe von Wolken an einem Herbsttag, die noch nicht voll angereichert mit Regen sind. Sie tragen keine Kleidung, haben kein Geschlecht. Und doch ist Nanny für mich weiblich. Ihre Stimme, von meinen Eltern ausgesucht, ist weiblich. Hoch und melodiös.
Quer über der Brust trägt jede LEE ein Symbol, das keinem anderen gleicht. Das ist der Punkt, an dem sich meine Augen festhalten. Nannys ist eine Spirale, die sich zu einem Kreis formt. Von ihr gehen kleine Wellen aus und bilden eine abstrakte gelbe Sonne.
Noems Au-pair trägt einen türkisenen Diamanten über ihrer Brust. Karinas Trainer zwei Reihen von fünf in sich übergreifende Kreisen in den Farben Blau, Gelb, Schwarz, Grün und Rot. Noem ändert das Symbol immer wieder. Karina vertauscht manchmal die Farben der Ringe. Ich möchte Nanny nicht anders haben. Nanny ist perfekt, wie sie ist.
Die kleine Sonne leuchtet nur für mich.
Der Gedanke verleiht mir Ruhe und Kraft und ich gehe zögerlich auf einen Tisch zu, an dem mein Name auf einem Display blinkt.
Was werde ich hier lernen? Ich kann bereits lesen, schreiben und rechnen. Was muss ich noch wissen? Der Gedanke, dass mir hier neue Welten eröffnet werden, ist erschreckend und wunderschön zugleich.
Als der Raum sich verdunkelt, der Saal zu einem Kino wird, bekomme ich einen Vorgeschmack dessen, was mich erwartet, und ich kann die Erkenntnis von vorhin erneut greifen.
Das würde Noem langweilen.
Das würde Karina nicht interessieren.
Ich sehe Farben, die sich im Rhythmus der Musik bewegen und zu Bildern formen. Meine Interbrille aktiviert sich von selbst und ein Hologramm erscheint. Ich kenne den Unterschied zwischen Menschen, Bots und Hologrammen. Ich bin ein Mensch. Ich bin geboren. Bots sind mechanisch. Sie wurden nicht geboren, sondern zusammengesetzt. Hologramme haben keinen Körper. Sie wurden geschrieben und existieren nur virtuell im Netz.