Der unbekannte Herr Carl. Cristina Zehrfeld

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Der unbekannte Herr Carl - Cristina Zehrfeld Maestro-Carl-Reihe

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stand mit seinem schweren Koffer an der Pforte des Aufnahmelagers Gießen. Der Pförtner fragte nach seinem Namen. Carli gab sich also zu erkennen. Der Pförtner notierte die Angaben in seiner Liste. Nichts deutete darauf hin, dass er wusste, mit wem er es zu tun hat. Carli war erstaunt. Es gab hier in der tiefsten Provinz der Bundesrepublik tatsächlich Menschen, die noch nie vom einzigartigen Carli gehört hatten. Carli schüttelte unmerklich den Kopf und dachte: „So hat denn jedes Land sein Tal der Ahnungslosen.“ Ohne mit der Wimper zu zucken machte der Pförtner den sensationellen Carli zu einem x-beliebigen Herrn Carl und schickte ihn zu den Herren Pontius und Pilatus sowie den Genossen Hinz und Kunz. Herr Carl musste drei blaue, zwei grüne, vier rosafarbene und fünf weiße Formulare ausfüllen. Anschließend musste er zwei bleichen Gestalten in grauen Anzügen haarklein erzählen, wieso er als Ostblockbewohner erlaubterweise in die Bundesrepublik hat reisen dürfen, warum er nicht planmäßig in den Ostblock zurückgefahren ist, wie es hinter den Kulissen des Konzerthauses zuging, wie es bei Zumsels unterm Sofa aussah, wer ihm bei seiner Flucht geholfen hatte, welche Gefahren ihm in seinem Heimatland drohten, für wie sicher er die ukrainischen Atomkraftwerke hielt und welche beruflichen, privaten und politischen Pläne er in der Bundesrepublik zu haben glaubte. Die bleichen Herren hatten keine Namen, aber dafür sehr schöne große, verspiegelte Sonnenbrillen. Schließlich bekam Carli Unterkunft, Verpflegung und fünfzehn D-Mark Taschengeld. Außerdem wurde ihm ein Aufnahmeschein ausgestellt, mit dem er einen „Flüchtlingsausweis C“ beantragen sollte. Alles lief erstaunlich glatt, obwohl Carli den bleichen Herren vom Geheimdienst doch etwas Wesentliches verschwiegen hatte: Eigentlich hätte Carli nämlich noch gar nicht da sein sollen, also in der Bundesrepublik. Eigentlich wollte er zu diesem Zeitpunkt schon wieder in seiner Maisonette-Wohnung in Leipzig-Grünau sein. Eigentlich wollte Carli zu diesem Zeitpunkt das fünfzehnte Konzert seines Bachzyklus' vorbereiten. Eigentlich wollte Carli sein Konzerthaus und seine Republik nämlich erst zu Pfingsten verlassen. Aber eigentlich hin oder her, Carli ist eben manchmal sehr unzuverlässig, und so ist es gar kein Wunder, dass er aus heiterem Himmel und ohne die Konzerthausleitung oder gar die Sicherheitsorgane zu informieren umdisponiert hat. Er ist einen Monat vorfristig im Westen geblieben, weil er befürchtet hat, dass Details seiner Fluchtpläne durchgesickert sein könnten. Natürlich hatte er damit Recht. Tatsächlich hatte der Herr IM Schleicher seinem Führungsoffizier, dem Herrn Oberst Schleicher, detaillierte Angaben zu Carlis Fluchtplänen zukommen lassen. Der Herr Oberst wusste also ganz genau, dass Carli die Republik am Pfingstsonntag illegal über Rumänien verlassen wollte. Deshalb war bereits alles veranlasst, um Carli am achtzehnten Mai um 13.45 Uhr in aller Form auf dem Flughafen Bukarest festzunehmen. Der Herr Oberst Schleicher musste diesen Termin, für den er sich bereits ganz exquisite Handschellen zurechtgelegt hatte, nun leider absagen.

      PS: Herr Carl hätte nicht sagen können warum, aber er fühlte sich im Aufnahmelager zu Gießen sofort wie zu Hause. Er grübelte hin und her, woran das liegen mochte. Vielleicht waren es die brillant ausgeklügelten bürokratischen Abläufe, die ihn an seine schöne sozialistische Ex-Heimat erinnerten, vielleicht waren es aber auch die schönen verspiegelten Sonnenbrillen. Jedenfalls wusste Herr Carl instinktiv, dass er auf einige liebgewonnene Gepflogenheiten auch in seiner neuen Heimat niemals würde verzichten müssen.

      Eine heiße Kartoffel

      Carli war im goldenen Westen angekommen. Für immer. Es gab kein Zurück. Niemals. Natürlich wusste Carli, dass auch im Westen nicht alles Gold ist, was glänzt. Er hat weder im Staatsbürgerkundeunterricht noch in den Fächern Marxismus-Leninismus und Politische Ökonomie geschlafen, auch wenn sein Lehrer, der überaus kultivierte Monsieur de la Creaun, das immer behauptete. Carli wusste selbstverständlich, dass im Kapitalismus nicht der Sozialismus herrschte und erst recht nicht der Kommunismus. Er wusste, dass in jeder Marktwirtschaft der Ellenbogen der wichtigste Körperteil war, dass nur Leistung zählte, dass die Kleinen und Schwachen schnell unter die Räder kamen. Aber das musste ihn nicht kümmern, denn Carli war weder klein noch schwach. Im Gegenteil. Mit seinen Einmeterzweiundneunzig Größe und einem Gewicht von momentan einhundertachtzehn Kilogramm war Carli sehr stattlich. Außerdem war Höchstleistung seit jeher Carlis zweiter Vorname. Und nicht zu vergessen: Carli war ein Genie, und Genies setzen sich überall durch. Erst recht in einer echten Leistungsgesellschaft. Zudem war Carli nicht unvorbereitet in die Bundesrepublik gekommen. Rund ein Dutzend Konzerttermine in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Berlin (West) standen bis zum Jahresende an. Das war nicht viel, aber immerhin ein guter Anfang. Carli klemmte sich also ans Telefon, um die betreffenden Veranstalter darüber zu informieren, dass er auf dem besten Wege war, Bundesbürger zu werden und dass er folglich künftig problemlos und jederzeit für Konzerte zur Verfügung stand. Dabei musste er zu seiner Überraschung feststellen, dass er als geflüchteter Ostblockkünstler noch lange kein willkommener Bundesbürger war, sondern zuallererst einmal eine Kartoffel. Eine heiße Kartoffel. Binnen vierundzwanzig Stunden hatten alle Veranstalter die Konzerte mit dem republikflüchtigen Herrn Carl ersatzlos gestrichen.

      Sabine und Monika

      Den mystischen Einfluss von Eigennamen auf das persönliche Wohl und Wehe und auf das ganze Weltgeschehen kann man gar nicht hoch genug einschätzen, denn selbstverständlich sind Eigennamen eine spezifische Form der sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Ob Vorname, Familienname, Flurname oder Ortsname: Der Name jedweden Dinges hat eine spirituelle Botschaft und ist Teil der innersten Weltenseele. Es ist deshalb grob fahrlässig, sich in Orten wie Krätze, Todesfelde oder Deppendorf niederzulassen. Herr Carl wusste das. Deshalb hat er sich nach wenigen Tagen bei Pastor Dietrich einquartiert, denn Dietrich heißt ja „der Mächtige“. Das allein wäre ein gutes Omen gewesen, aber es kam noch besser. Der mächtige Dietrich wohnte zu Herrn Carls großer Freude in einer Stadt, bei der schon der Name eine unübersehbare Offenbarung war: Pastor Dietrich wohnte in Siegen, und so wohnte nun auch Herr Carl in Siegen. Es konnte nichts mehr schiefgehen. Gegen alltägliche Unzulänglichkeiten freilich ist auch ein unbesiegbarer Name wie „Siegen“ machtlos. Herrn Carls Schwester Carlinchen hatte das große Glück, als erste der Carlschen Familie ihren Geburtstag in der neuen, freien Heimat zu feiern. Es gab dünnen Jacobs-Café mit extra viel Kaffeesahne der Sorte Bärenmarke, braune Milkyways und Maoam. Aber es gab eben auch Tränen des Zorns. Carlinchen hat nämlich ein bisschen gebockt. Zu ihrem eigenen Geburtstag! Aber damit hatte sie völlig Recht. Keiner hatte nämlich Carlinchen vor der Reise ohne Wiederkehr gesagt gehabt, dass man im goldenen Westen bleiben würde. Carlinchen war überrumpelt worden. Sie hatte ihre ureigensten Angelegenheiten nicht mehr regeln können. Sehr ärgerlich, denn natürlich hatte Carlinchen ebenso viele persönliche Angelegenheiten zu regeln wie jeder andere Mensch auch. Die Geburtstagsvorbereitungen zum Beispiel. Carlinchen hatte wie gewöhnlich ihre besten Freundinnen, Sabine und Monika, zum Kaffeetrinken eingeladen. Auf halb vier. Wie jedes Jahr. Aber Sabine und Monika waren nicht pünktlich. Sie waren nicht einmal unpünktlich. Sie kamen überhaupt nicht. Sabine und Monika haben Carlinchens Geburtstagsfeier ohne Entschuldigung geschwänzt. Das Geburtstagskind war sehr verärgert, als es die sechsundzwanzig Kerzen auf der Geburtstagstorte ausblies. Natürlich sollte die Feier ursprünglich in der Carlschen Wohnung in Kräha stattfinden. Aber die Ortsänderung war ja völlig belanglos. Carlinchen fand, dass für echte Freundinnen der Katzensprung von Sachsen nach Hessen kein Hinderungsgrund sein konnte.

      PS: Wenn Herr Carl die Republik nicht verlassen hätte, wäre Carlinchen der ganze Ärger freilich erspart geblieben. Trotzdem hatte sie allen Grund, ihrem Bruder doch auch ein kleines bisschen dankbar zu sein. Gerade sickerten nämlich erste Informationen durch, dass drei Tage vor Carlinchens Geburtstag ein Reaktor im Kernkraftwerk Tschernobyl explodiert war. Dabei hatten sich blöderweise auch ein paar radioaktive Wölkchen ohne Visum auf eine nicht genehmigte Reise begeben, um nach rund eintausenddreihundert Kilometern auf Kräha herabzuregnen und Carlinchen zu verstrahlen. Nun allerdings hätten sie vierhundert Kilometer weiter reisen müssen. Das war den Strahlen dann Gott sei Dank aber doch zu weit.

      Voodoo

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