Der unbekannte Herr Carl. Cristina Zehrfeld
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Herr Carl überwindet seine chronische Musikschul-Allergie
Herrn Carls Situation war nicht eben komfortabel. Er hatte inzwischen seine Zwischenstation bei Pastor Dietrich in Siegen verlassen und war nach Bad Homburg gezogen. Die dortige Wohnung teilte er mit den Eltern und seiner Schwester Carlinchen, so dass Herrn Carl selbst nur eine Fläche von acht Quadratmetern zur alleinigen Verfügung stand. Er hatte also ein klein bisschen weniger Platz als in seiner Leipziger Maisonette-Wohnung, die ihm mit ihren einhundertzwanzig Quadratmetern Wohnfläche immer zu klein erschienen war. Nun waren es also einhundertzwölf Quadratmeter weniger. Trotzdem sah Herr Carl wie immer nur das Gute, indem er nämlich schwärmte: „Hier muss ich wenigstens nicht so viel putzen.“ Da er nicht viel putzen musste, hätte Herr Carl umso mehr spielen können. Allerdings wollte sich niemand an der heißen Kartoffel, die Herr Carl nun einmal war, verbrennen. Doch Herr Carl war ja seit jeher vigilant, und so tat er auch in dieser verflixten Situation intuitiv das einzig Richtige: Er sicherte sich den Beistand von ganz oben, indem er nämlich möglichst oft zur Ehre Gottes spielte, und zwar dort, wo Gott es am liebsten hört, in Gottesdiensten. Vor allem die Gemeinden von Bad Homburg, Frankfurt am Main und Bad Vilbel freuten sich über ihren erstaunlich begabten Aushilfskantor. Allerdings war es für den stets auf großem Fuße lebenden Herrn Carl sehr schwierig, mit sechshundertzwanzig D-Mark Arbeitslosenunterstützung und den mickrigen Einnahmen aus den Vertretungsdiensten in Kirchen einen ganzen Monat hinzukommen. Deshalb hat er etwas getan, was er schon immer gut konnte. Herr Carl übte sich in Demut und stellte seine Dienste den Schwächsten zur Verfügung: Den Schülern der nahegelegenen Volkshoch- und Musikschule. Dies, obwohl, wie wir wissen, seine Erfahrungen mit Musikschulen nicht die besten waren. Zunächst übernahm er einige Klavierschüler, wobei das 92-jährige Fräulein Helene Mehlhorn aus Friedrichsdorf wegen seines Fleißes besondere Erwähnung verdient. Fräulein Mehlhorn hatte bereits seit über zwanzig Jahren Klavierunterricht genommen, als Herr Carl ihre weitere Ausbildung übernahm. Sie bedurfte daher nicht in erster Linie einer besonderen musikalischen Anleitung, sondern vor allem eines geduldigen Gesprächspartners. Bereits nach der ersten gemeinsamen Klavierstunde hatte Fräulein Mehlhorn Herrn Carl in ihr Herz geschlossen, denn er war nicht nur ein guter Zuhörer, sondern auch ein begnadeter Erzähler phantastischer Geschichten.
PS: Herr Carl setzte weder Voodoo noch sonstige mystischen Kräfte ein. Dennoch traf er jene, die ihn liebten, unwissentlich wieder einmal mitten ins Herze. Und das ging so: Vor einiger Zeit, als Herr Carl noch der Carli war, hatte er nach einem Gastspiel eine kleine, verwaiste Katze aus dem schönen thüringischen Schnett mit ins Konzerthaus genommen, sie liebevoll aufgepäppelt und auf den schönen Namen „Piffaro“ getauft. Natürlich hatte er das Tier nicht mitnehmen können, als er die geliebte, sozialistische Republik verließ. Das war aber nicht schlimm, denn Piffaros Revier reichte derweil von Auerbachs Keller bis zum Alten Johannisfriedhof. Innerhalb dieses Jagdgebietes hatte sich Piffaro besonders mit dem Kellner Friedereich und der alten Frau Sonneberg angefreundet. Da beide voneinander nichts wussten und folglich beide Piffaro als ihr Streunerchen adoptiert hatten, hörte das Tier inzwischen auch auf die Namen Mizzi und Theobald. Außerdem war Piffaro etwas mollig geworden. Carlis Flucht lag bereits etliche Wochen zurück, als während einer Probe im Konzerthaus ein eindringliches Katzenmauzen zu hören war. Das Spiel stockte und ein Klarinettist rief aus: „Carli ist wieder da“. Da musste sogar Professor Kurth schmunzeln, obwohl er das später stets bestritten hat.
Löwenthal
Drei Tage nach dem sensationellen Konzert in Niederschelderhütte-Birken hatte Herr Carl Gelegenheit, in aller Öffentlichkeit über die Vorzüge der Freiheit zu philosophieren, denn er war zu Gast beim „Schwarzen Kanal des Westens“, beim „Sudel-Ede des Zweiten Deutschen Fernsehens“, beim Lieblingsfeind des Karl-Eduard von Schnitzler. Herr Carl war der Einladung von Gerhard Löwenthal gefolgt und gab ein Interview im ZDF-Magazin. Ohne seine spektakuläre Flucht hätte Herr Carl an diesem Tag das sechzehnte Konzert seines auf achtzehn Abende angelegten Bach-Zyklus im Konzerthaus zu Leipzig gespielt. Aber daran verschwendete er keinen Gedanken. Ein Konzert vor mageren zweitausend Zuhörern war ja nichts gegen dieses Ereignis, welches nun zweifellos Millionen von Menschen an den Fernsehgeräten verfolgen würden. Gerhard Löwenthal wollte den Zuschauern vor allem verdeutlichen, wie die kommunistische Verschwörung des Ostblocks die unterjochten Menschen zum Äußersten treibt und dass eine künstlerische Freiheit unter linksradikaler Flagge unmöglich ist. Wobei Herr Löwenthal tief im Inneren durchaus Zweifel hegte, ob nicht vielleicht Herr Carl als Bugwelle einer bald schon folgenden roten Flut bewusst in die Bundesrepublik eingeschleust worden sein könnte. Für Herrn Carl waren die von Löwenthal angeprangerten bolschewistischen Auswüchse eher zweitrangig. Er hoffte lediglich, dass an diesem Tag sämtliche Veranstalter von Orgelmusiken das ZDF-Magazin anschauen und ihn, Carli, anschließend unverzüglich engagieren würden. Es ist nicht belegt, wie viele potentielle Veranstalter die Sendung gesehen haben. Allerdings steht zweifelsfrei fest, dass Herr Hansgeorg Jesudas aus Osnabrück das Interview mit wachsender Begeisterung verfolgt hat. Noch am selben Abend hat Herr Jesudas einen Brief ans ZDF verfasst, in dem er inständig um die Kontaktdaten zu Herrn Carl bat.
In eine große Zukunft muss investiert werden
Wenige Tage später hielt Herr Carl das ans ZDF-Magazin gerichtete Schreiben von Hansgeorg Jesudas in den Händen. Er überlegte, ob er darauf reagieren sollte. Immerhin stand in diesem Brief, dass Jesudas ihm (Herrn Carl) einige interessante Konzerte in der Bundesrepublik vermitteln wollte. Das fand Herr Carl sehr löblich. Er überlegte hin und her und her und hin. Er hatte keine Lust, seine neu gewonnene Freiheit an einen Manager abzugeben. Andererseits klang „Manager“ doch viel besser als „Künstleragentur“. Fünf Minuten lang starrte Herr Carl auf seinen Kalender, in dem keinerlei Termine standen. Dann schrieb er Herrn Jesudas einen netten Brief, und das war gut so, denn wie sich schnell herausstellte, war Jesudas ein Mann von höchsten Qualitäten. Er machte nicht viel Federlesens, sondern versprach, dass er Herrn Carl binnen weniger Wochen mit sämtlichen Koryphäen der klassischen Musikszene bekannt machen wird. Jesudas versprach Herrn Carl, dass er ihn den Chefs sämtlicher Opernhäuser, allen möglichen Festivaldirektoren, Programmverantwortlichen sämtlicher Fernsehsender, Theaterintendanten, Landeskirchenmusikdirektoren, Varietee-Betreibern