Bahnwärter Thiel. Gerhart Hauptmann
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Im Sommer vergingen Tage, im Winter Wochen, ohne daß ein menschlicher
Fuß, außer denen des Wärters und seines Kollegen, die Strecke passierte.
Das Wetter und der Wechsel der Jahreszeiten brachten in ihrer
periodischen Wiederkehr fast die einzige Abwechslung in diese Einöde.
Die Ereignisse, welche im übrigen den regelmäßigen Ablauf der Dienstzeit
Thiels außer den beiden Unglücksfällen unterbrochen hatten, waren
unschwer zu überblicken. Vor vier Jahren war der kaiserliche Extrazug,
der den Kaiser nach Breslau gebracht hatte, vorübergejagt. In einer
Winternacht hatte der Schnellzug einen Rehbock überfahren. An einem
heißen Sommertage hatte Thiel bei seiner Streckenrevision eine verkorkte
Weinflasche gefunden, die sich glühend heiß anfaßte und deren Inhalt
deshalb von ihm für sehr gut gehalten wurde, weil er nach Entfernung des
Korkes einer Fontäne gleich herausquoll, also augenscheinlich gegoren
war. Diese Flasche, von Thiel in den seichten Rand eines Waldsees
gelegt, um abzukühlen, war von dort auf irgend welche Weise abhanden
gekommen, so daß er noch nach Jahren ihren Verlust bedauern mußte.
Einige Zerstreuung vermittelte dem Wärter ein Brunnen dicht hinter
seinem Häuschen. Von Zeit zu Zeit nahmen in der Nähe beschäftigte Bahn-
oder Telegraphenarbeiter einen Trunk daraus, wobei natürlich ein kurzes
Gespräch mit unterlief. Auch der Förster kam zuweilen, um seinen Durst
zu löschen.
Tobias entwickelte sich nur langsam: erst gegen Ablauf seines zweiten
Lebensjahres lernte er notdürftig sprechen und gehen. Dem Vater bewies
er eine ganz besondere Zuneigung. Wie er verständiger wurde, erwachte
auch die alte Liebe des Vaters wieder. In dem Maße, wie diese zunahm,
verringerte sich die Liebe der Stiefmutter zu Tobias und schlug sogar in
unverkennbare Abneigung um, als Lene nach Verlauf eines neuen Jahres
ebenfalls einen Jungen gebar.
Von da ab begann für Tobias eine schlimme Zeit. Er wurde besonders in
Abwesenheit des Vaters unaufhörlich geplagt und mußte ohne die geringste
Belohnung dafür seine schwachen Kräfte im Dienste des kleinen
Schreihalses einsetzen, wobei er sich mehr und mehr aufrieb. Sein Kopf
bekam einen ungewöhnlichen Umfang; die brandroten Haare und das kreidige
Gesicht darunter machten einen unschönen und im Verein mit der übrigen
kläglichen Gestalt erbarmungswürdigen Eindruck. Wenn sich der
zurückgebliebene Tobias solchergestalt, das kleine, von Gesundheit
strotzende Brüderchen auf dem Arme, hinunter zur Spree schleppte, so
wurden hinter den Fenstern der Hütten Verwünschungen laut, die sich
jedoch niemals hervorwagten. Thiel aber, welchen die Sache doch vor
allem anging, schien keine Augen für sie zu haben und wollte auch die
Winke nicht verstehen, welche ihm von wohlmeinenden Nachbarsleuten
gegeben wurden.
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