Tränenuntergang. Herr Thönder

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Tränenuntergang - Herr Thönder

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Meinem kleinen Bruder. Warum gibt’s den nochmal? Abgesehen davon, dass er mich tierisch nervt. (Aber ehrlich gesagt: Mich nervt momentan einfach alles!) Vor allem frage ich mich das, weil er eindeutig kein „Kind der Liebe“ ist. Er ist zehn Jahre jünger als ich. Und schon ich erinnere mich, dass in meiner Grundschulzeit keine Liebe mehr in unserem Haus herrschte. Eigentlich noch nie. Immer gab es ständig Streit, viele Tränen und wenig Harmonie.

       Und dann gleich zwei Kinder? Verstehe ich nicht.

       Aber gut, ich komme mit ihm klar. Meistens. Am besten, wenn er weit weg ist.

       Trotzdem ist er mein Bruder. Und trotzdem tröste ich ihn mehr oder weniger gerne, wenn es ihm schlecht geht. Und ich versuche, ihn zu beschützen. Vor der Welt. Vor Euch.

       Auch deshalb werde ich diese Briefe schreiben. Um nicht nur mir etwas Erleichterung zu verschaffen, sondern auch, um vielleicht etwas zu verändern. Etwas zu verbessern. Wenn nicht für mich direkt, so doch indirekt, indem ich es für Mark verbessere.

       Das Problem ist, dass ich Euch die Briefe dafür auch geben muss. Mal sehen, wann ich soweit bin. Momentan sehen meine Pläne noch anders aus...

      3

      Lewis schloss die Augen und hielt die Luft an. 22 – 23 – 24... Nach ungefähr einer halben Minute entspannte er seine Muskeln und ließ so die Luft wieder entweichen.

      Und den Rauch.

      Ein sanftes Lächeln breitete sich auf seinem jungen Gesicht aus. Sein 1,80 Meter großer, schlanker Körper entspannte sich völlig. Der rechte Arm legte sich entspannt unter den dicht belockten Kopf. Er lag auf einer Decke direkt auf dem weichen Waldboden. Das war genau, was er gebraucht hatte.

      Die Schule war stressig geworden. Kurz vor dem Abschluss der zehnten Klasse schienen alle Lehrer noch einmal das Gefühl zu bekommen, so viel Stoff wie möglich in ihre Schüler zu zwängen.

      Bei diesem Gedanken musste Lewis breit grinsen: „Eigentlich sind wir uns gar nicht so unähnlich.“

      Lewis war 16 Jahre alt und ging auf das örtliche Gymnasium. Seit einer Weile hatte die Schule in der zehnten Klasse eine Prüfung eingeführt. Für die, die von der Schule gehen würden, eine Abschlussprüfung, für alle anderen eine Zwischenprüfung. Da sie sehr wahrscheinlich auch bei einer Bewerbung irgendwann interessant werden würde, hatte sie schon einen gewissen Anspruch. Wenn man dann noch aus einer Familie kam, in der Leistung groß geschrieben wurde, wurde dieser Anspruch noch erhöht. Und der Druck.

      Lewis hatte nie Probleme in der Schule gehabt. Schon von Anfang an hatte er zu Hause gelernt, zu lernen – und zu gehorchen. Meist war er deshalb Klassenbester gewesen, hatte Extraaufgaben erledigt und war zum Liebling der Lehrer avanciert.

      In letzter Zeit hatte sich das aber verändert. Er hatte keine Lust mehr auf diesen Stress. Er wollte auch mal einfach abschalten, seine Ruhe haben, ohne lernen zu müssen. Seine Lehrer taten das immer mit einem Lächeln und dem Hinweis auf die Pubertät, „die wohl doch endlich zugeschlagen“ hätte, ab. Seine Eltern durften das allerdings nicht wissen, sonst würde er keine schöne Minute mehr verbringen können. Zum Glück hatte er die Lehrer schon so sehr für sich eingenommen, dass sie wenigstens diesmal dicht hielten.

      Seine Eltern waren so ein Thema für sich. Nachdem sie lange Zeit das Zentrum seines Universums gewesen waren, hatte ihn die Pubertät völlig aus ihrem Orbit geschleudert. Er konnte sie nicht mehr ertragen, wollte nicht mehr zu Hause sein und schon gar nicht mit ihnen reden.

      Wenn er über sie nachdachte, waren sie nur noch „der Karrierehengst“ und „die Psychotante“. Gedanklich hatte er sie völlig auf ihre hervorstechendsten Merkmale reduziert. Oft stellte er sie sich als Karikaturen vor, die einem Zeichentrickfilm ähnlich durch das Haus rannten, die Kinder in Hektik versetzten, mit Geld um sich warfen oder einfach nur hysterisch heulten. Nur so konnte Lewis das Leben zu Hause überhaupt noch aushalten.

      Immer, wenn es möglich war, verschwand er in den Wald. Dort hatte er sich eine kleine Hütte gebaut, die andere nicht kannten. Hier konnte er in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Oder einfach seinen Kopf mit ein bisschen Marihuana ausschalten.

      Niemand ahnte etwas von diesem „Doppelleben“, das er führte. Zu Hause erschien er zwar sehr schweigsam, aber doch angepasst, strebsam und korrekt. Sämtliche Macken, die er zeigte, ließen sich problemlos auf „das Alter“ schieben.

      Nur Mark, sein kleiner Bruder, hatte mal was geahnt. Als Lewis nach Hause kam, hatte er die Nase gerümpft und gesagt: „Du stinkst nach Rauch. Und Du hast Tannennadeln in den Haaren.“ Zum Glück war Mark noch so leicht zu beeinflussen, dass er sich mit der Bitte um ein „gemeinsames Geheimnis“ abspeisen ließ. Jetzt war er stolz darauf, mit seinem großen Bruder gemeinsame Sache zu machen, von ihm ins Vertrauen gezogen worden zu sein – von ihm geliebt zu werden.

      „Dieser Trottel!“

      Die meiste Zeit über ging Mark ihm ziemlich auf die Nerven. Aber Lewis fühlte sich in einer bestimmten Weise für ihn verantwortlich. Er wollte nicht, dass es Mark schlecht ging. Und schon gar nicht wollte er, dass Mark dem Stress zu Hause alleine ausgesetzt wäre.

      Er liebte ihn auf eine Art und Weise, wie nur große Geschwister lieben können.

      Zumindest hatte er das mal irgendwo gelesen. Offiziell würden ihm solche Worte nämlich niemals über die Lippen kommen, eher noch würde er seinem Vater sagen, dass er keine Lust auf Karriere hätte und lieber Musiker werden würde.

      Bei genauerer Überlegung würde er doch eher Mark sagen, dass er ihn liebte. Immerhin könnte der ihn nicht windelweich prügeln.

      Auch wenn er nicht sicher wäre, ob sein Vater das überhaupt machen würde. Sicher, sein Temperament und seine ursprünglich arabische Prägung könnten vielleicht mal aus ihm herausbrechen. Insgesamt war sein Vater aber ein sehr kontrollierter Mensch. Gefühle wurden in der Regel nicht gezeigt. Die Enttäuschung, die er über Lewis verspürte, konnte man nur in seinen Augen ablesen.

      Das war es zumindest, was Lewis in den Augen seines Vaters sah: Enttäuschung über seinen Sohn.

      Aber was sollte er machen? Mehr als Klassenbester ging nicht. Mehr als ein Praktikum pro Ferien ging auch nicht. Und mehr als den ganzen Tag lernen und sich um den kleinen Bruder kümmern ging auch nicht.

      Lewis lächelte: „Oh, doch, das geht!“

      Heimlich hatte er begonnen, seine Fluchtstätte im Wald zu bauen. Er hatte Holz zusammengesucht, das zum Glück von den vielen Stürmen der letzten Jahre reichlich vorhanden war. Er hatte vom Sperrmüll eine kleine Kommode in die Hütte geschafft, sodass er alles, was er nur hier brauchte, auch verstauen konnte. Nicht, dass die Waldtiere auf die Idee kämen, seine Vorräte zu fressen. Schlimm genug, dass er jedes Mal die Luft anhalten musste, wenn er in den Nachrichten von einer Polizeisuchaktion „mit Hundestaffel“ im Wald hörte. So lustig er es auch gerade fand: Die Vorstellung, dass die Polizisten ein vollgedröhntes Reh sahen war nicht komischer, als dass die Hunde die Hütte und die Drogen entdeckten.

      Dann schon lieber seine Mutter.

      Vielleicht wäre das mal eine gute Idee. Vielleicht könnte er sie so mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Schon seit mehreren Jahren war sie total durchgeknallt. An vielen Tagen lief sie mit einer Sonnenbrille und verweinten Augen durch die

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