Mutterschmerz. J.P. Conrad

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Mutterschmerz - J.P. Conrad

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bei den Vornamen der Frau Mattheis und ihrer Tochter waren Sie sich nicht sicher. Wie kommt das?« Ich sah sie alle nacheinander herausfordernd an. Manche Blicke wanderten zu Boden, andere hielten mir mit einem nichtssagenden Augenausdruck stand. Der stämmige Mann mit der Latzhose sagte schließlich:

      »Sie war hier nicht so beliebt, die Frau Mattheis.«

      Das ließ mich aufhorchen. »Ach? Wieso?«

      Mein gegenüber schielte nach links und rechts, scheinbar in der Hoffnung, jemand anderer würde diese Frage statt seiner beantworten. Und tatsächlich erklärte die Kopftuch tragende Alte:

      »Sie ist nur zugezogen. Und sie hat keinen Mann.«

      Allmählich dämmerte es mir. »Aber sie hat ein Kind. Ist es das, was Sie meinen?«

      Der Mann in der Arbeitshose räusperte sich verlegen und die Damen nickten zaghaft. Es ging also um die alte Leier mit den festgefahrenen Moralvorstellungen. In Frankfurt waren sie da inzwischen schon ein wenig liberaler unterwegs, aber hier auf dem Land herrschte offenbar noch finsteres Mittelalter, was diese Themen anging.

      Ich seufzte. »Na schön. Wissen Sie, wie alt ihre Tochter ist?«

      »Wie alt wird sie sein?«, fragte die Frau in der Kittelschürze und sah zu ihrer Nachbarin. »Vielleicht zwölf?« Niemand widersprach.

      »Ihre Haarfarbe?«

      »Blond, wie ihre Mutter«, raunte der Latzhosenträger.

      Auch das notierte ich mir und spulte nun die Routinefragen herunter: »Hat einer von Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt? Vielleicht jemand ortsfremden bei ihrem Haus gesehen?«

      Die Anwesenden schauten sich gegenseitig an; alle verneinten.

      »Wissen sie, wer die Feuerwehr gerufen hat?«

      Wieder meldete sich der Mann in der Latzhose. »Das war ich. Meine Frau hatte den furchtbaren Gestank bemerkt und ich bin zum Hoftor, um nachzuschauen, ob man sieht, woher er kam. Da hab ich den Qualm gesehen; das Haus hat richtig gedampft. Und in den Fenstern hat das Feuer geflackert. Dann hab ich schnell zehn Pfennig geholt und bin zur Zelle gelaufen.« Er deutete mit einem Kopfnicken die Straße hinunter. »Erst da ist mir dann eingefallen, dass ich die ja gar nicht gebraucht hätte für den Notruf.«

      In diesem Moment ertönte ein markerschütternder Schrei, der uns alle zusammenzucken ließ. Hektisch sah ich mich um. Sein Ursprung hatte irgendwo hinter dem Feuerwehrlöschzug gelegen. Ich rannte los. Auf der anderen Seite, nahe des Hauseingangs der Familie Mattheis, rollte mir ein Apfel vor die Füße. Ich folgte mit den Augen der Richtung, aus der er gekommen war. Mitten auf der Straße erspähte ich einen umgekippten Flechtkorb. Eine zerbrochene Milchflasche, ein Blumenkohl sowie einige Äpfel lagen auf dem Kopfsteinpflaster. Hinter dem Korb stand eine Frau um die dreißig, die sich entsetzt die Hände vor den Mund hielt. Sie trug einen knielangen, beigen Mantel, unter dem ein blauer Rock hervorlugte. Ihr blondes Haar wurde von einem himmelblauen Kopftuch eingerahmt. Das Gesicht der Frau war kreidebleich. Zeitgleich mit Gerd Blume traf ich bei ihr ein. Sie schluchzte, wimmerte.

      »Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich in sanftem Ton. »Wer sind Sie?«

      »Ingeborg Mattheis. Das ist mein Haus«, antwortete sie mit bebender Stimme und deutete auf das heruntergebrannte Fachwerkhaus.

      Kapitel 8

      Helga Kramer gähnte müde und nahm den pfeifenden Kessel vom Herd. Sie goss das heiße Wasser in den Filter, das sich langsam seinen Weg durch das braune Pulver bahnte und als Kaffee in die Kanne tropfte. Anschließend füllte sie sich eine Tasse und setzte sich an den schmalen Küchentisch. Sie biss von dem Brot mit Ahler Wurst ab, das sie sich gemacht hatte und das ihr ganzes Frühstück sein würde. Es war einfach nicht dasselbe, wenn sie alleine war. Normalerweise wurde bei ihr Zuhause in Fulda das Frühstück allmorgendlich als familiäres Ereignis zelebriert, bei dem alle zusammensaßen: ihr Mann, die beiden Mädchen und sie. Aber hier war das anders; besonders heute. Ingeborg war noch nicht von ihrer ersten Nachtschicht zurück und ihre Nichte Karin war sehr früh in Richtung Schule aufgebrochen.

      Während sie ihr Brot kaute und mit schwarzem Kaffee hinunterspülte, hing sie ihren Gedanken nach. Insbesondere musste sie an Karin denken; an das seltsame Benehmen, dass das Kind an den Tag gelegt hatte. Schon seit Helga gestern Nachmittag angekommen war, hatte sie sich merkwürdig still und beinahe nervös verhalten. Das war sonst gar nicht ihre Art gewesen; sie hatte sich immer sehr über den Besuch von oder auch bei ihrer Tante gefreut. Irgendetwas schien ihr schwer auf der Seele zu lasten. Helga konnte nur vermuten, was es war. Vielleicht Probleme in der Schule? Oder Ärger mit ihrer Mutter? Ingeborg hatte aber nichts dergleichen erwähnt. Und dann dieser frühe Aufbruch am Morgen; fast anderthalb Stunden vor Schulbeginn. Helga nahm sich vor, am Nachmittag mal mit ihrer Nichte zu reden, schließlich hatten sie immer ein gutes Verhältnis zueinander gehabt.

      »Vielleicht kommt sie ja auch einfach schon in die Pubertät«, dachte sie bei sich, mit der Erfahrung einer Mutter, die dies bereits zweimal hatte durchleben dürfen, und schloss damit das Thema zunächst für sich ab.

      Nachdem sie ihr spartanisches Frühstück beendet hatte, bereitete Helga das Mittagessen vor. Es würde Schweinebaucheintopf mit Kartoffeln und Bohnen geben und damit dieser gut schmeckte, musste er genug Zeit zum Durchziehen haben. Sie schnitt das Fleisch, wusch Bohnen und Kartoffel und schälte Letztere. Helga kannte das Rezept im Schlaf; schon als Kinder hatten Ingeborg und sie es am elterlichen Tisch in Fulda gegessen. Karin würde es sicher auch mögen.

      Nachdem sie alles vorbereitet hatte, machte sich Helga an die Wäsche. In etwa zwei Stunden würde Ingeborg nach Hause kommen und wahrscheinlich sehr müde sein. Daher würde sie ihrer Schwester, so gut sie konnte, zur Hand gehen und sie während ihres ersten Nachtdienstes seit vielen Jahren entlasten; so, wie Ingeborg sie in ihrem Brief darum gebeten hatte. Es war eine Selbstverständlichkeit für Helga, ihr zu helfen, und sie tat es gerne. Glücklicherweise waren ihre eigenen Töchter schon vierzehn und sechzehn und brauchten keinen Aufpasser mehr. Um den ihren Haushalt mussten sich eben, solange sie selbst für eine Woche im Taunus war, ihr Mann Paul und ihre Schwiegermutter kümmern. Sie war zuversichtlich, dass sie es bewältigen würden.

      Da Ingeborg keine Waschmaschine besaß, kniete sich Helga mit Waschbrett und Kernseife auf dem Kellerboden über den alten Metallzuber und begann zunächst, eine von Karins Blusen zu reinigen. Während sie das Textil kräftig einseifte und mit Sehnsucht an ihre elektrische Bauknecht Waschmaschine in Fulda dachte, hörte sie ein Geräusch. Es hatte wie ein Klirren geklungen, als ob etwas zerbrochen war. Und es kam ihr so vor, als wäre es beinahe über ihrem Kopf gewesen; in der Küche.

      Helga erhob sich mit einem entnervten Stöhnen von ihren schmerzenden Knien, wischte sich die Hände an ihrer Kittelschürze trocken und lief die steile Kellertreppe hinauf. Sie ging in die Küche, wo ihr Blick sofort auf die Tür fiel, die zu dem kleinen Hinterhof mit den Gemüsebeeten führte. Sie stand einen Spalt offen. Die Kaffeekanne, die direkt auf der Anrichte dahinter gestanden hatte, lag in Scherben auf dem Boden und der Kaffee hatte sich über dem unebenen Linoleum verteilt. Aber da war noch etwas. Schuhabdrücke. Sie führten aus der Kaffeelache geradewegs auf Helga zu und an ihr vorbei. Erschrocken fuhr sie herum und starrte direkt in zwei fremde, zornig funkelnde Augen. Sie wollte einen Schrei ausstoßen, doch schon als sie Luft holte, erhielt sie einen blitzschnellen Faustschlag gegen den Schädel. Sie verlor das Gleichgewicht, taumelte und fiel auf den Rücken; Ihr Kopf schlug unsanft an ein Tischbein. Vollkommen benommen vor Schmerz und gelähmt vor Angst, sah sie nur schemenhaft, wie sich die Gestalt, die gerade nicht mehr war, als ein verschwommener, dunkler Klumpen, aus ihrem

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