Abschied vom Kietz. Helmut H. Schulz

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Abschied vom Kietz - Helmut H. Schulz

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      Helmut H. Schulz

      Abschied vom Kietz

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Kapitel I

       Kapitel II

       Kapitel III

       Kapitel IV

       Kapitel V

       Kapitel VI

       Kapitel VII

       Kapitel VIII

       Kapitel IX

       Kapitel X

       Impressum neobooks

      Kapitel I

      Irgendwie war es eine abgeschlossene Welt; in der wir lebten. Unsere Gegend war wie eine Insel, auf der sich, zwei Jahre nach dem Krieg, das Treibgut abgelagert hatte. Sicherlich wurden wir noch in einer Statistik geführt, doch wer uns suchte, der fand uns nur schwer in dem Gewirr von Ruinen, Häusern und Höfen.

       Ihren Namen verdankte die Blumenstraße der Geschicklichkeit hugenottischer Gärtner. Blumen gab es hier längst nicht mehr. Sie würden dem Kietz auch etwas idyllisches gegeben haben, das nicht zu uns gepasst hätte. Zu uns passte der Regen im Herbst und der Schneematsch im Frühjahr. Vor der türlosen Einfahrt unseres Hauses klammerte sich eine große Kastanie in den Asphalt.

      «Er hätte Schmied lernen sollen», sagte Jule. Seine großen wächsern gewordenen Hände fingerten in dem mächtigen Bart, der ihm bis auf die Brust herabhing. Beharrlich wiederholte er seine Forderung: «Ich habe immer gehofft, dass er Schmied wird.»

      Meine Großmutter antwortete, während sie Brot schnitt, so wie alte Frauen Brot schneiden, vor der Brust: «Er hätte ganz was anderes werden sollen. Aber was? Er ist wie ein junger Hund, furchtsam und dumm.»

      Das Brot hatte zahlreiche Kerben, jede bedeutete etwa eine Fünfziggrammscheibe. Es war vollständig aufgeteilt.

      An der Wand blakte eine Petroleumlampe. Jule schraubte den Docht herunter, bis die Flamme ruhig brannte.

      Jule stand auf langen dürren Beinen. Sein Rücken war noch ungebeugt. Jule trug einen verschossenen blauen Leinenkittel. Jule wirkte müde und krank. Hustenanfälle, die den abgezehrten Körper wie einen leeren Sack schüttelten, plagten ihn seit Ende des Winters.

      Jule war zweiundsiebzig.

      «Hat Er eigentlich noch die Geige, die ich ihm geschenkt habe?» fragte er.

      Dieses Er stand auf der Mitte zwischen Du und Sie. Es klang barsch und unhöflich. Es führte zurück in das Schwedt vor der Jahrhundertwende, Jules Geburtsstadt.

      Ich brachte ihm Geige und Bogen. Er stimmte die Saiten. Sein Rücken krümmte sich auch im Sitzen nicht. Die Töne, die Jule dem Instrument entlockte, klangen kratzig.

      «Geiger hätte Er werden können, wenn Er nur gewollt hätte», sagte Jule.

      Es war alles entschieden. Ich würde zu Kretzschmar gehen, um das Lithografenhandwerk zu erlernen.

      «Hör auf», befahl meine Großmutter, «wer soll das mit anhören!» Sie war klein, rundlich und energisch. Dagegen glich Jule einem austrocknenden Stamm.

      «Sie ist entzwei», sagte Jule bedauernd, «ich werde sie ganz machen."

      Seine Hände brauchten ständig eine Arbeit.

      Ich versuchte mir meine Großeltern jung vorzustellen, jung und auf dem Hof eines bäuerlichen Hauses. Eine Säge schneidet in festes frisches Holz. Es ist Oktober oder November, noch nicht kalt, aber die Bäume sind entlaubt. Nasser, großflockiger Schnee fällt auf die Hände meiner jungen Großeltern, schmilzt unter der Wärme ihrer Haut. Die Schmiede ruht. Kein Mensch denkt im November daran, dem Schmied Arbeit zu geben.

      Nach einer Lebensweisheit für mich suchend, sagte Jule nachdenklich: «Er soll nicht soviel reden, man hat das nicht gern.»

      «Wenn ihm Unrecht geschieht, dann soll er ruhig reden», sagte meine Großmutter.

      Ich fühlte, dass mir die Erfahrungen meiner Großeltern nicht viel nützen würden.

      Meine Großmutter legte das geschnittene Brot und einen Apfel in eine Büchse. Sie wurde seit Jahrzehnten den Männern zur Arbeit mitgegeben. An den Kanten platzte das weiße Email ab.

      «Schwatzen soll er aber nicht», sagte Jule.

      Das Deckenlicht ging an. Meine Großmutter blies die Lampe aus, strich den langen dunklen Rock glatt und setzte sich.

      Sie sorgten sich. Ich war die zweite Generation, die sie hinausschickten, hinaus in ein Leben, das sie nicht mehr verstanden und vielleicht nie verstanden hatten.

      Er ist zäh, dachte ich, er wird leben, in seinen Garten fahren, Bäume beschneiden, pflanzen, ernten, Schlösser reparieren und Zäune flicken. Solange er arbeitet, wird er leben.

      Unser Haus hatte dunkle Treppen mit knarrenden altersschwachen Stufen, zerbröckelndem Wandputz, losen Traillen in blank gewetzten Geländern und einem säuerlichen Geruch nach Verwesung.

      Im rechten Flügel lebte der bucklige Bruno in einer Wohnung, die der unseren gegenüberlag. Die übrigen Wohnungen darunter waren unbenutzbar, mit Ausnahme der Kneipe Matkowskis, des eisernen Pferdes. Bruno hatte kluge verschlagene Augen unter einer breiten, aber flachen Stirn. Stichlige Haare verdeckten sie halb.

      Jeden Mittwoch und Sonnabend spannte der Bucklige sein dickes Pferd vor einen niedrigen Wagen, belud ihn mit Stangen und Zeltplanen für den Markt unter freiem Himmel und fuhr damit durch die Einfahrt. Zweimal in der Woche traf ich ihn früh, wenn ich zur Arbeit ging.

      «Jetzt lohnt es bald wieder», sagte Bruno geheimnisvoll. Hinter der breiten Stirn arbeiteten die Gedanken.

      «Was lohnt

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