Abschied vom Kietz. Helmut H. Schulz

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Abschied vom Kietz - Helmut H. Schulz

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fragte sie.

      «Was willst du denn in Hamburg machen?», fragte ich ausweichend.

      «Ich will ja gar nicht weg», sagte Vera, «was geht mich mein Vater an. Ich kenne ihn ja kaum.»

      Sie lehnte den Kopf an meine Schulter. Ihr Haar roch nach trockenem Staub. Ich fragte mich, ob ich selber nach Hamburg gehen würde, in ähnlicher Lage wie Vera. Ich kam zu keinem Schluss.

      «Ob es wieder Krieg gibt?», fragte sie.

      Ich sah keinen Zusammenhang zwischen dieser Frage und dem Brief ihres Vaters. Vera sah auch keinen, wie ich durch eine Gegenfrage herausbekam.

      «Also zerbrich dir nicht den Kopf darüber», sagte ich.

      Sorgfältig zertrat ich die Zigarettenreste.

      Sie sagte: «Lass es doch brennen, Wölfchen»

      Es lohnte nicht, darauf zu antworten. Vera hatte es selbst dahin gebracht, dass wir sie nicht ernst nahmen.

      «Trag mich die Treppe runter», sagte sie.

      «Hör schon auf», sagte ich mit wachsendem Ärger, «um halb sechs muss ich raus.»

      Sie schloss Kleid und Mantel und ging leise zur Tür. Ebenso leise folgte ich ihr. Im Treppenhaus brannten wieder die kläglichen Funzeln, was durchaus nicht selbstverständlich war. Strom gab es nur stundenweise.

      Als wir uns trennten, sagte Vera: «Du hast Lippenstift am Mund.»

      Sie zog ein Taschentuch heraus, spuckte darauf und rieb mir die Farbreste ab.

      Ich erinnere mich an eine Fassade aus solidem Hartklinker von der Farbe überreifer dunkler Kirschen. Ihre Geometrie war zweckmäßig und trostlos. Angelehnt an Wohnhäuser, in denen die grauen Vögel der Armut nisteten, beherrschte die Fassade den Hof.

      Ich entsinne mich eines ältlichen Telefonfräuleins und ich höre ihre Stimme, die der sandelholzfarbene Klappenschrank verschluckte. Ihre Dienstzeit bei Kretzschmar belief sich auf fünfundzwanzig Jahre, meine auf wenige Wochen. Zu uns jüngeren bewahrte sie eine hochnäsige Zurückhaltung, die im Gegensatz, zu ihrem demütigen Gesicht hinter der Büroscheibe stand. Von den Gängen und Windungen eines Termitenhügels unterschied sich das Innere des Hauses durch den strengeren Aufbau.

      Zu viert arbeiteten wir in einem Raum, der sein spärliches Licht durch die hohen rechteckigen Fenster erhielt. Meist brannten auch am Tage Glühbirnen unter grünen Metallschirmen. Im Winter heizte ein Ofen aus Kanonenmetall den Raum.

      Ich erinnere mich einer grauen, von schwarzen Löchern durchbrochenen Wand, wenn ich hoch sah. Das Paneel des Zimmers war mit einer stumpfglänzenden, spinatgrünen Farbe bestrichen.

      Merkwürdigerweise erinnere ich mich vieler Gesichter, aber nur wenige Namen haben sich meinem Gedächtnis dauerhaft eingeprägt.

      In der dritten Etage unseres Flügels lebte Vigo Schwarz mit seinen Eltern, gerade unter unserer Wohnung. Unsere Wasserleitung endete nicht in der Küche, sondern auf dem Flur. Das Klosett befand sich eine halbe Treppe tiefer und wurde von zwei Mietern genutzt.

      Vigo war neunzehn und lernte Autoschlosser.

      Wir spielten manchmal Billard bei Matkowski. Das eiserne Pferd sah gelegentlich zu. Am Spätnachmittag war die Kneipe meist leer. Er war ein muskulöser glatzköpfiger Mann, früher Ringer, berühmt wegen seiner Kraft und Trinkfestigkeit.

      Er zeigte uns ein paar Stöße.

      «Leicht, leicht musst du das Queue halten, so mit Daumen und Zeigefinger», knurrte er.

      Vigo vertrug keine Kritik. Von uns war er der strahlendste und der empfindlichste. Mit dichtem dunkelblondem Haar und leuchtend grauen Augen und dem sehnigen Körper des Ballwerfers wirkte er erwachsen und männlich.

      «Deine Hände sind zu schwer», belehrte das eiserne Pferd. «Mach mir kein Loch ins Tuch. Am besten, du lässt es überhaupt. Wird doch nichts draus. Lass Wolf spielen. Der kann es besser.»

      In der zweiten Etage, über Vera und unter Vigo, wohnte Helga, siebzehnjährig und von lauernder Sanftheit. Ihr Haar trug sie seitlich gescheitelt, mit einer glitzernden Metallspange über der Schläfe befestigt. Weiß und glatt war ihre Haut. Sie hatte kleine weiße Zähne und ein zurückhaltendes Wesen. Von uns war sie die Klügste, nur war ihre Klugheit nicht frei von Berechnung. Breite Backenknochen und dichte Brauen rahmten Augen, blau wie Leinblüten ein.

      Sie arbeitete in einem wissenschaftlichen Verlag. Manchmal gab sie mir Bücher, die schadhaft waren oder aus anderen Gründen nicht verkauft werden konnten. Ich las sie nicht, weil sie die Angelegenheiten einer mir fremden Welt behandelten. Helga mochte ich gern, wie man eine Schwester gern hat, die gescheit ist und sanft. Sie hatte eine rundliche Figur und stark entwickelte Brüste.

      Sie interessierte sich brennend für unsere Zukunft. Ich erzählte ihr, dass Veras Vater wieder aufgetaucht sei.

      «Ich weiß», sagte sie, «Vera sorgt schon dafür, dass es unter die Leute kommt.»

      Sie sass in einem der Sessel, die in meiner Bude standen und betrachtete meine Zeichnungen.

      «Malst du eigentlich bloß immer Kaffeemühlen und Tintenfässer?», fragte sie.

      Täglich drehte ich einige tausend Punkte auf Lithographensteinen oder angekörnten Zinkplatten. Es war ein trauriges und ermüdendes Handwerk.

      «Vielleicht kannst du mal Grafiker werden», sagte sie, «leicht ist das nicht. Die haben kein richtiges Arbeitsverhältnis. Sie bekommen Aufträge bezahlt.»

      «Ich kann mit den Leuten nicht warm werden. Vielleicht schmeiß ich alles mal hin.»

      «Du hast ja gerade erst angefangen», sagte Helga. Sie prüfte weiter die Skizzen.

      «Vera wird nach Hamburg ziehen, wenn sie weiß, dass Vigo sie nicht will», erklärte sie.

      Das Licht der Tischlampe fiel auf ihre Hände, die Grübchen zeigten. Ihr Gesicht lag halb im Dunkeln.

      «Zeichnest du keine Menschen?»

      Einmal in der Woche ging ich in die Abendklasse, die für alle frei war. Dort saß ein alter Mann Modell, dessen Kopf nach einigen Minuten regelmäßig auf die Brust herabsank.

      Ich legte ihr die Skizzen vor.

      «Ein Künstler bist du wohl nicht», sagte sie mit leichtem Lächeln und strahlenden Augen.

      «Ich will ja auch keiner werden», sagte ich und nahm ihr die Zeichnungen weg.

      «So war es nicht gemeint», sie hielt meine Hände fest, «sei nicht so empfindlich. Wölfchen. Es ist immer besser, man macht sich nichts vor.»

      Ihre Lippen öffneten sich bereitwillig, als ich sie küsste. Helgas Brust war weicher als Veras Brust, weicher, reifer, überhaupt war Helga anders, klüger, freundlicher, weniger fordernd, wie ich glaubte. Leicht entzog sie sich meinen Händen. Weiter ließ sie es nie kommen.

      «Wir müssten alle vier was unternehmen», sagte sie, «was Vernünftiges.»

      Was

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