Abschied vom Kietz. Helmut H. Schulz
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Читать онлайн книгу Abschied vom Kietz - Helmut H. Schulz страница 6
Klein und sauber war die Küche, mit niedriger Decke und alten Möbeln. Vigo war da und Vera. Ich gab ihr die Hand und klopfte Vigo auf die Schulter. Weil es nur drei Stühle gab, setzte sich Vera zu Vigo auf den Schoß. Ich nahm den frei gewordenen Stuhl, und der alte Schwarz meinte: «Zappeln darfst du nicht, Wolf. Die Stühle sind ein bisschen altersschwach.»
Anscheinend belustigte ihn die Vorstellung, mich mit dem Stuhl zusammenbrechen zu sehen, denn er lachte ausgiebig.
«Du könntest ja mal ein paar neue Stühle besorgen, anstatt alles in die Kneipe zu tragen», sagte Vigo schlecht gelaunt.
«Ich könnte dir auch mal wieder eine langen», antwortete der Abträger gelassen. Er brannte sich eine Zigarette an und sah auf uns herab.
Vigo verband keine guten Erinnerungen an die Tage, an denen der Abträger trank. Beruhigend legte Vera den Arm um Vigos Nacken. An ihrem Handgelenk klirrte eine billige Kette mit allerhand Anhängsel: Bären, Wappen Glückskäfer und Pilze. Mir fiel wieder auf, wie schmal der Arm Veras war und wie weiß. Es war merkwürdig, dass dieser Kinderarm zu ihrem wissenden und gierigen Körper gehörte.
Ich stellte unsere berühmte Frage. Wie üblich wusste keiner eine Antwort.
«Na», sagte der Abträger, «streng dich mal an, Wolf. Die kommen von alleine auf nichts»
In unserem Viertel hatte ich einen Ruf zu verlieren. Deshalb schlug ich vor, ins Theater zu gehen. Helga ging häufig ins Theater. Hin und wieder schleppte sie uns mit. Theater liebte ich nicht sehr. Wie Vera und Vigo zog ich Kino vor, aber nur wenige Filme fanden meine Zustimmung.
Stumm lehnte Vigo ab. Vera verzog den Mund.
Wieder schaltete sich der alte Schwarz ein.
«Da hast du es. Jetzt bist du mit einem Vorschlag an der Reihe», sagte er zu seinem Sohn.
Herausfordernd sagte Vigo: «Wie oft zieht es dich denn ins Theater?»
Es sah aus, als ob Vigo wieder mit Vera ging. Vielleicht hatten sie sich ausgesöhnt.
«Wir mussten ja bloß für dich rackern, deine Mutter und ich», sagte der Abträger, «und trotzdem waren wir kein so trauriger Verein wie ihr heute.»
«Ich rede nicht von früher», sagte Vigo.
«Dich setz ich noch mal vor die Tür, mit deiner frechen Schnauze», meinte der Alte.
«Schmeiß mich doch raus», sagte Vigo.
Vera glitt von seinem Schoß. «Also dann um sieben unten», sagte sie. Vigo nickte.
Es war Sonnabend, und ein langes Wochenende stand uns bevor. Langsam stieg ich nach oben, überlegend, ob es einen Sinn hatte, zu Helga zu gehen. Dann unterließ ich es. Wir würden uns nachher doch sehen.
Am Tisch saß der Arzt und schrieb. Meine Großmutter hielt seinen Hut und sah respektvoll auf die Glatze des Doktors hinunter. Ich grüßte leise, um ihn nicht zu stören. Er kam häufig, seit Jule krank lag. Der Doktor kannte uns gut, und wir liebten ihn sehr. Schwangeren sagte er den Tag ihrer Niederkunft voraus oder half bei Abtreibungen. Er schrieb Rezepte für die Lebenden und stellte die letzte Diagnose. Es kam vor, dass er eine halbe Nacht am Bett eines Sterbenden verbrachte. Unsere kleinen und großen Sorgen interessierten ihn ebenso wie unsere körperlichen Leiden.
Ohne aufzusehen, sagte er zu mir: «Sie müssen gleich zur Apotheke. Wir können ein Stück zusammengehen.»
Sein Spitzbart war grau, und die Augenlider hinter den Brillengläsern waren stark gerötet. Ich trug seine Tasche. Wir gingen die Blumenstraße hinunter.
Er legte mir die Hand auf die Schulter: «Sehen Sie sich alles gut an. Es ist nützlich. Die Häuser waren schon vor dem Kriege nichts mehr wert. Man müsste sie abreißen.»
Ich wusste, dass der Doktor aus der Gegend weggekonnt hätte.
Er blieb stehen, nahm die Brille herunter und rieb sich die entzündeten Augenlider.
«Rennen Sie nicht so», sagte er, «auch Ärzte haben einen Kreislauf, besonders alte Ärzte.»
Wir liefen ein paar Schritte weiter, bis er wieder stehen blieb. Seine wässrigen Augen sahen mich prüfend an. Er riet: «Seien Sie vorsichtig beim Geschlechtsverkehr. Wir haben jetzt eine Masse Neuinfektionen. Kriege und Epidemien gehen immer zusammen. Wie sind eigentlich die Rollen unter euch verteilt?»
Ich klärte ihn auf und fragte, ob er glaube, dass die Häuser einmal abgerissen werden würden.
«Vielleicht», sagte er, «aber wann?»
Abends trafen wir uns auf der Straße, Vera und Vigo, Helga und ich.
Veras Mutter arbeitete in einer Wäscherei. Durch das Stehen waren ihre Fußgelenke geschwollen. Die Bandagen, die sie trug, änderten daran nur wenig. Ihr Gesicht, von dünnem, fahlem Haar umrahmt, war flach und leblos. Sie hörte schwer, weshalb ihre Augen meist einen fragenden Ausdruck hatten.
«Sie muss gleich kommen, wenn sie kommt», sagte die Plätterin böse, auf meine Frage nach Vera. Sachkundig füllte sie das schwere alte Plätteisen mit glühender Holzkohle, die sie dem Herd entnahm. Die Wärme des Eisens prüfte sie an ihrer Wange.
«Komisch», sagte ich, «dass es noch Leute gibt, die was zu plätten haben.»
Sie nickte gleichgültig. Ich hatte Mühe mit ihr, ein Gespräch in Gang zu bringen.
«Hat Ihr Mann eigentlich noch mal geschrieben?», fragte ich.
Das Thema schien irgendeine Saite in ihr zum Klingen zu bringen, denn sie sagte: «Was ich mit diesem Lumpen ausgestanden habe! Er hat nie gearbeitet. Angeblich hat er einen Laden. Woher, das möchte ich wissen.»
Auf einen Laden richteten sich die Hoffnungen vieler Leute aus unserer Gegend. Aus den Worten der Plätterin war Achtung vor der Tüchtigkeit ihres Mannes herauszuhören.
«Du brauchst nicht zu warten», sagte sie plötzlich, «wenn Vera kommt, muss sie was für mich besorgen.»
Später ging ich mit Vera zum Schlossplatz. Es war noch hell, aber schon merklich kalt. Der Winter kündigte sich an. Vor der ausgebrannten Schlossfassade liefen Gruppen von Menschen auf und ab. Jeeps mit Soldaten fuhren langsam über den Platz.
«Woher hat deine Mutter die Zigaretten?», fragte ich.
«Sie verkauft die Zigaretten für ihre Chefin», sagte Vera kurz, «meine Mutter ist doch ein blödes Aas. Sie lässt sich von jedem ausnutzen.»
Vera kannte sich aus. Sie sprach einen Mann an, und das Geschäft wickelte sich schnell ab.
«Wie ist denn deine Arbeit?», wollte sie wissen, als wir zurückgingen. «Hast du dich schon eingelebt?»
«Nein», sagte ich.
In den ersten Wochen hatte ich versucht, mich dem Trott anzupassen. Einmal in der Woche ging ich in die Berufsschule, die am Schlesischen Tor im amerikanischen