Gemütlichkeit. Ursula Reinhold
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Er sprach über neue Kollegen, die er dort hatte und von denen er nur die wenigsten kannte. Auch von den russischen Arbeitern wusste er wenig. Einige von ihnen hätten sich zur Wlassowarmee gemeldet und warteten nun auf ihren Einsatz, berichtete mein Vater. In den Gesprächen meiner Eltern kam dieser Name häufig vor, und auch in Lindenberg führte man ihn öfter im Munde. Auf dem Nachbarhof gab es einen Russen, der kurz vor Ende des Krieges auftauchte und im Unterschied zu Stanislaus auch einige Zeit nach dem Krieg noch dort blieb. Ich merkte an der Art, wie darüber gesprochen wurde, dass es etwas Besonderes mit dieser Armee auf sich haben musste. In Plauen nun war mein Vater auch von seinen zwei deutschen Kollegen getrennt, mit denen er offen reden konnte. Ein Dritter, Karl Ladé, war bereits im Herbst 1944 vom Arbeitsplatz weg abgeholt und nach einem schnellen Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Er sei einem Provokateur aufgesessen, meinte mein Vater. Die anderen Kollegen hatte man an andere Orte gebracht. "Man bereitet sich auf das Ende vor”, gab mein Vater meiner Mutter zu verstehen. Auch von den SS-Leuten, die meinen Vater kontrollierten, gab es nur noch solche, die mein Vater nicht kannte. Bei Henschel in Schönefeld hatte er durchaus Gespräche mit manchen geführt. Mit einem ließ es sich gut über philosophische Fragen reden, wie es mein Vater immer geliebt hatte. Auch über Fragen der Rassenhygiene haben sie gestritten. Mein Vater gab vor, nicht zu verstehen, weshalb die asiatischen Japaner uns näher stehen sollten als beispielsweise die Franzosen. Mein Vater hat diese Art des Diskurses auch später gepflegt und zu einer hohen Kultur entwickelt. Auf diese Art konnte er mit vielen Leuten reden. Je ferner sie ihm standen, desto besser ging das. Bei denen, die ihm näher standen, war es komplizierter. Hier fand er oftmals nicht die richtige Tonlage. Nach Weihnachten musste mein Vater gleich wieder weg, da hingen die Kugeln, Flöten und Glocken noch am Baum. Er kam einige Monate später wieder, im März 1945 vielleicht. Aber da hat meine Mutter ihn gleich wieder weggeschickt, obwohl er wieder mit dem Fahrrad gekommen war und mir sehr müde schien. Sie erzählte ihm flüsternd, dass einige Tage zuvor ein Mann nach ihm gefragt hätte, und wiederholte mehrmals: "Es ist zu früh und zu gefährlich! "
Mein Vater kam erst später endgültig zurück. Die Zeit, die wir ohne ihn waren, bevor die Russen kamen, war nicht mehr schön. Nach Lindenberg fuhren wir in dieser Zeit nicht mehr. Meine Mutter meinte, wir müssten bleiben, wo wir sind, damit uns Papa und mein Bruder wiederfinden, wenn sie kämen. Das leuchtete mir ein, obwohl die ständigen Alarme in dieser Zeit einen eigentümlichen Zustand bei mir erzeugt haben. Am Abend brauchte ich mir die Sachen nicht auszuziehen. Weil es nur für kurze Zeit, bis zum nächsten Alarm war, durfte ich auf dem Sofa in der Küche schlafen. Das Schlafdefizit bescherte mir einen traumwandelnden Zustand, eine vollkommene Gleichgültigkeit. Wenn meine Mutter bei mir war, ging es, sonst war es sofort um mein Gleichgewicht geschehen.
Meine Mutter sah das offensichtlich auch so, denn sie war, bis auf die wenigen Ausnahmen, von denen ich schon berichtet habe, stets bei mir. Sie ließ mich nicht einmal in die Schule gehen, in die ich meinem Alter entsprechend 1944 hätte eingeschult werden müssen. Diesbezügliche Aufforderungen ignorierte sie. Auch die Angebote zur Evakuierung aus Berlin schlug sie aus. "Wo wollen sie denn hin mit uns, kommt sowieso alles überall hin!", meinte sie, an meinen Vater gewandt, der ihr zustimmte. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass in der Schule in Baumschulenweg zu dieser Zeit nur noch Appelle abgehalten wurden. Das fand meine Mutter überflüssig, dafür schickte sie mich nicht hin.
Der Einmarsch der Russen nach Berlin ist in meiner Erinnerung mit der großen Wäsche meiner Mutter verbunden. Das kam so. Die Wäsche war bereits auf der Leine, die kreuz und quer in einem Teil des Gartens gespannt war. Das scheint mir, da ich es aufschreibe, ungewöhnlich, weil die sonst immer auf dem nahe gelegenen Spielplatz an den großen Ahornbäumen befestigt wurde. An diesem Tag war das anders. Das verrät, dass meine Mutter die Sache wohl ziemlich schnell und unbemerkt über die Leine bringen wollte. Aber sie hatte falsch kalkuliert, sie unterschätzte unseren Luftschutzwart Herrn Schmidt, der immer dafür zu sorgen hatte, dass alles gut verdunkelt war. Meine Eltern hatte er schon mehrmals verwarnen müssen, weil sie die Sache nicht ernst genug nahmen, obwohl auch sie überall vor den Fenstern schwarze Rollos angebracht hatten. Seit einigen Tagen schon hörten wir es in der Ferne grummeln. Mich beunruhigte das nicht sonderlich, weil es gleichmäßiger und leiser klang, als die Geräusche, die ich von den Bombenangriffen her kannte. Herr Schmidt kam unseren Weg entlang und rief meiner Mutter schon von Weitem zu: "Sind Sie verrückt geworden. Wir kriegen bald Feindberührung und sie hängen Wäsche auf die Leine?" Im Näherkommen belehrte er sie über die Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen, über die Notwendigkeit, Tarnung zu wahren und sich überhaupt auf das bevorstehende Ereignis vorzubereiten. Und zwar anders, als meine Mutter es tat. Die begegnete ihm ziemlich gelassen, tippte sich an den Kopf und entgegnete: "Wieso denn Feindberührung? Das ist doch Übungsschießen in allen Bezirken. Herr Schneider, unser Nachbar, war dazu gekommen und unterstützte meine Mutter mit den Worten: "Ja, so steht es in der Zeitung."
Ob meine Mutter an diesem Tag ihre Wäsche noch trocknen konnte, weiß ich nicht. Überhaupt ist meine Erinnerung ziemlich lückenhaft und ich bin mir nicht sicher, ob ich es alles so erlebt oder aber aus den Erzählungen meiner Eltern übernommen habe. Aber authentisch ist es auf jeden Fall. Ungewiss ist nur, wofür oder für wen. Kurze Zeit später bezogen wir unseren Splittergraben für länger. Wir nahmen Spirituskocher, Kochgeschirre und Eingewecktes mit. Frau Schneider saß jetzt auch in unserem Splittergraben und ging nicht mehr in den Bunker zur Straße 6. Dafür muss man ihr wirklich weise Voraussicht bescheinigen, denn die Brücke, über die sie gehen musste, um dorthin zu gelangen, existierte kurze Zeit später nicht mehr. Wir hörten es mehrfach in diesen Tagen sehr nahe, sehr stark rumsen, woraufhin die Erwachsenen meinten: "Das sind unsere Brücken.” Sie hatten recht, wie sich kurze Zeit später herausstellte.
Unsere Brücken war schon einige Zeit vorher im Gespräch. Einmal waren Männer zu uns in die Laube gekommen, die Bretter und andere Baumaterialien suchten. Sie sprachen eine für mich ungewohnte Sprache, sie kämen aus Bayern, sagte mir meine Mutter. Auf ihre Frage: "Ihr wollt uns doch nicht etwa unsere Brücke kaputtmachen?”, sagte der eine Mann: "Wir nicht, wir legen nur die Sprengladungen und setzen uns dann ab." Über diese Gespräche berichtete meine Mutter am Abend meinem Vater, dem sie mitteilte, dass geplant sei, die Brücken zu sprengen. Es sprach sich wie ein Lauffeuer unter den Anwohnern herum und löste allgemeines Entsetzen aus. Das Interesse daran, dass die Brücken bleiben sollten, war allgemein. So fand Herr Schmidt es in der Ordnung, dass Volkssturmmänner die Linden und Ahornbäume, die damals auf der Britzer Allee standen, fällten, um Panzersperren vor die Brücke zu bauen. Sie sollten verhindern, dass der Russe über die Brücke kommen konnte.
Als wir nach einiger Zeit aus dem Splittergraben kamen, stellte sich heraus, dass nicht nur unsere nahe gelegenen Brücken über den Teltower Stichkanal zerstört waren, sondern auch die über den Teltowkanal, den wir überqueren mussten, wenn wir nach Britz oder Rudow wollten. Die Brücken zerstören, das war nun wirklich das letzte Mittel. Wir waren von Neukölln, Baumschulenweg und Britz abgeschnitten - nur der Weg nach Johannisthal und Schöneweide blieb offen. Dann erfuhren wir, dass nicht die Männer, die bei uns gewesen waren, die Brücken gesprengt hatten, sondern Hitlerjungen, halbe Kinder, wie es hieß. Sie wollten sich nach der Aktion im Bunker der Straße 6 in Sicherheit bringen, aber die Leute ließen sie nicht herein. Sie lagen dann alle in einem großen Grab nahe dem Bunker. Der Hügel blieb für meine damaligen Begriffe lange dort, und ich habe ihn mir immer angeschaut, als wir mit Holzfloß über den Kanal konnten. In meiner späteren Vorstellung flossen die Berichte über diese Hitlerjungen mit den Filmaufnahmen zusammen, die Hitler bei der Begrüßung des letzten Aufgebots zeigen. Er schüttelt dort einem vielleicht dreizehnjährigen Jungen die Hand, und ich denke dann daran, dass dieser Junge und alle anderen, die dort standen, nicht mehr leben, sondern längst in dem Massengrab in der Straße 6 verfault sind. Einige freilich hatten auch