Selfie. Justine la Mour

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Selfie - Justine la Mour

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Eine Zukunft kündigt sich an, die gelebt werden muss, eine Zukunft bricht ein, reißt die Wolken auf, regnet knallbunte Konfettis herab. Erstmal zum Möbelhaus, erstmal shoppen, erstmal glücklich sein.

      Patchwork nennt sich die neue Kollektion, die das Designermöbelhaus in diesem Frühjahr entworfen hat, antike Möbelstücke in Neonfarben lackiert, Polstersessel im Stil Ludwig XIV in Pink und Violett, barocke Ornamente an Tischen, Konsolen und Kommoden in riesigen Verkaufshallen. Spiegel in auslaufenden Formen und Daliuhren, Standleuchten mit flexiblen Armen, an deren Enden riesige hellgelbe Blütenblätter leuchten, Sessel im Pompadourstil mit glänzend lackierten Rahmen und Samtbezügen, stilisierte Hirschgeweihe aus weißem und schwarzem Lack, Hängeleuchten und Kristalllüster. Wie Charlotte vor Vergnügen schreit, hin und her läuft, sich fallenlässt auf Sofas, Sessel, Sitzkissen, hier und da, alles haben, alles kaufen, alles besitzen. Vorhänge mit Streublumen in allen Farbtönen, kleine Zimmerbrunnen, Setzkästen, Kerzen, sie landet in hohem Bogen auf Sitzlandschaften, hüllt sich ein in flauschige Überdecken, wirft um sich mit samtenen Kissen und jubelt. Sie muss glücklich sein, das Glück strahlt aus ihren Augen, das ist ihr Glückstag. Später Schuhe, später Kleider, später Handtaschen, der Shoppingtag soll sich lohnen, Taschen, Kleider, Schuhe kann man nie genug haben. Im Sonnenglanz des Vormittags sitzen sie erschöpft in einem Straßencafe, Charlotte löffelt Schokoladeneis, die Sahnehaube schmilzt in der Frühlingswärme, die sich morgens leicht und frei, mittags schwerer auf die Stadt legt. Ihre neuen Lackschuhe, Signalrot mit Spangen und Schnallen an den Seiten ziehen die Blicke der Passanten auf sich, halten sie fest wie rote Ampeln, an denen man stehen bleibt.

      Überdimensionale Einkaufstüten mit riesigen aufgedruckten Lettern hindern Justine und Charlotte am Laufen, geraten immer wieder zwischen ihre Beine, verdrehen sich und wirbeln um sie, im Café brauchen sie zwei Stühle, um sie abzustellen. Das Gefühl, etwas Neues beginnt, wächst mit jedem Einkauf, diese Kleider, Taschen, Schuhe gehören schon in eine Zeit ohne ihn, nach ihm, eine von Stunde zu Stunde anwachsende Zukunft. Justine rührt erschöpft im Latte Macciatoschaum, das Herz aus weißem Milchschaum und Schokolade verschwimmt, ihr ist als ob sich eine alte Haut abstreife, etwas ablöse von ihrem Körper, eine dicke schmutzige Schicht, die längst abgewaschen werden sollte, sie schließt die Augen und atmet durch, Poesie kommt ihr in den Sinn, das Vage, das angenehm Ungewisse, das Schwebende eines neuen Lebens. Weißblaue Wolken zittern in Erwartung, siebter Himmel und Frühlingsliebe wirbeln durch die Lüfte. Aus den überdimensionalen Einkaufstüten mit schnörkelverliebten Schriftzügen in silbernen, goldenen und pinkfarbenen Lettern ragen in Seidenpapier eingewickelte Kleidungsstücke hervor, spitzenbesetzte Krägen, der Gürtel eines senffarbenen Trenchcoats, ein zitronengelber Seidenschal. Charlotte lächelt zufrieden und lutscht an einem riesigen Lolly. Am Abend, der mit lauer Luft und leichtem Wind die Wärme des Tages in ihre Schranken weist, ziehen wieder Nebel auf. Als sie vollgestopft mit riesigen Taschen, Kleinmöbeln und Ausstattungsteilen in die Tiefgarage fahren kommt sie, die Frage, die unvermeidliche, die Frage, die den ganzen Tag verdrängt in einer finsteren Ecke lag: Wo ist eigentlich Papa? Im Nachhinein, Jahre später, ist es nur eine Änderung von kaum spürbarem Ausmaß, eine Verschiebung ohne wirklichen Anlass, Luftveränderung, der Wechsel einer Windrichtung, ein rundes Gesicht mit weißgrauem Babypflaum und wulstigen Lippen eingetauscht gegen dunkle Locken und einen schmallippigen Intellektuellenmund. Einen fußballbegeisterten Biertrinker eingetauscht gegen einen schriftstellernden Whiskytrinker. Halbglatze gegen Lockenschopf, sanfte dunkle Stimme gegen bestimmende helle, achtundvierzig Männerjahre gegen neununddreißig.

      Die Nächte mit einem liebevoll gelangweilten Mann gegen die mit einem rasanten Quertreiber, am Ende sind sie gleich, wirbeln durcheinander wie Schneeflocken, verschiedene Farben auf einem sich immer schneller drehenden Karussel, dessen Stillstand sie schon lange herbeisehnt. Silencio! Eine Frage verfolgt sie an diesem Tag und alle weiteren Tage, eine Frage, die bleiben wird. Sie hört sie schon bevor sie ausgesprochen wird, hört sie in ihrem inneren Ohr, lange vorher. Warum haben wir den Papa umgetauscht? Er hat doch zu uns gepasst. Ich weiß es nicht mehr. Justine braucht lange, um diese Wahrheit zu finden, erst viele Jahre später dringt sie zu ihr vor, springt sie an, plötzliche Erkenntnis. Jetzt bin ich da, sagt die Wahrheit, jetzt endlich. Einmal angeordnet ist es schwer, das Leben wieder in andere Fugen zu bringen, fugenlos kann es nicht bestehen. Ist es aus den Fugen muss man sich eine andere Strategie einfallen lassen, die Reset-Taste drücken und sich als eine andere erfinden. Zusammenreißen, sich zusammenreißen, nicht aufgeben. Think pink, positiv denken.

      Sie können die vielen Einkaufstaschen kaum tragen, in mehreren Anläufen werden sie aus dem Aufzug in die Wohnung geschleppt. Kann ich euch helfen? fragt ein blasser Mann, der die Tür öffnet, ein Fremder, der in dieser Wohnung ab morgen nichts mehr zu suchen hat, der heute schon hätte fort sein sollen. Der namenlose Vater ihres Kindes, noch nicht ganz ausgezogen, aber auch nicht mehr anwesend wie ein Traumwandler schleicht er mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei und trägt die riesigen Kartons und Taschen ins Wohnzimmer. Als er am nächsten Morgen die Wohnungstür hinter sich zuzieht hört sie ein leises Knacken im Schloss im Moment als ihr Leonardo einen Kuss gibt.

      Nachts darauf träumt sie einen bizarren Auszugstraum, im Schnellvorlauf rasen Bilder an ihr vorbei, Momente des vergangenen Tages, Blicke, Gesten, Worte rauschen vorüber, Umzugskartons mit dunkelblauem Schriftzug schleifen über das Parkett, passieren die Türschwelle, Männerköpfe richten sich auf und prallen fast gegeneinander, himmelblaue Augen stoßen auf dunkelbraune. Schreit da ein Mädchen, weint jemand leise oder bildet sie sich das ein? Ist es nicht eher ein silberhelles Lachen der Erleichterung, das in allen Gesichtern steht? Da weckt sie Charlotte, eine heißdampfende zitternde nasse Charlotte in einem weißen Rüschennachthemd, das an ihrem Körper klebt. Eine Stimme in ihr meldet sich zu Wort, will Frieden stiften: Jeder Anfang ist schwer, jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, jeder Zauber ist schwer. Sie umarmt ihre Tochter, trägt sie nach unten, wäscht sie, zieht sie um, bringt sie ins Bett. All das geschieht wie in einem Clip, kaum kann sie begreifen wie die einzelnen Bilder aneinanderhängen so schnell rasen sie vorüber. Sie steigt die Treppe hinauf und liegt wach, der Mond wirft fahle gelbliche Strahlen ins Zimmer, Leonardos schwarze Locken liegen drapiert wie eine Perücke über dem Kopfkissen. Bis in die frühen Morgenstunden betrachtet sie die Schatten an den Wänden, wie sie tanzen, wie sie sich vermischen und wieder auseinanderstreben, zuletzt fallen ihre Augen zu und verzaubern sie mit Träumen, Träume, in einen Traum gebettet.

      Leonardo

      Wie lange lebt er schon in dieser Gegenwart? Monate, Jahre, Jahrzehnte? Sein Blick schweift durch die Fenstergauben über die Dachterrasse in den Garten. Blühen die Bäume, sind die Äste verschneit, liegt Blütenstaub über dem Rasen? Auch die Geräusche verändern sich im Lauf der Jahreszeiten, schwellen an oder klingen ab, hell oder dunkel passen sie sich den Temperaturen an. Nach dem Frühstück beginnt er einzutauchen in sein Leben, in sein Schreiben, in die Figuren und die Handlung, die sie umhertreibt. Seit er bei Justine und Charlotte lebt versucht er seinen Rhythmus beizubehalten, was schwerfällt, ständig wirft ihn wieder etwas aus dem Fluss des Schreibens, ein Telefonat, ein Klingeln an der Tür, ein Gedanke an Einkauf, Post oder Bankgeschäfte. Wie frei das Leben ohne Familie war, wie leicht, wie anders trotz bellender Hunde im Hof, streunender Katzen, überfüllter Müllsäcke und dem Geruch angebrannter Speisen aus den Hausfluren. Ein Schweben der Tage, eine Einheit, nur zersetzt von gelegentlichen Ausfällen an Ideen oder Fantasien, die später nicht zu gebrauchen waren. Selbst das Kreischen von Kinderstimmen, das überlaute Dröhnen von Stereoanlagen oder die Streitereien und das Toben von Stimmen über ihm, unter ihm, neben ihm, das durch die Wände drang, war nicht so aufdringlich wie die Verpflichtungen, die Zwänge der Familiengegenwart. Seit er hier lebt, hat sich seine Welt verrückt, rückt jeden Tag ein stückweit ab von ihm, andere Wichtigkeiten drängen, fallen ihn an, belästigen ihn. Einkaufen, waschen, bügeln, putzen, organisieren statt schreiben, sinnieren und fließen lassen von Worten. Nicht das Schreiben muss unterbrochen werden von Alltäglichkeiten, die Alltäglichkeiten werden unterbrochen von seinen verzweifelten Versuchen zu schreiben. Einmal einen Gedanken zu Ende denken, einmal eine Figur abschweifen lassen, einmal ein Konzept entwerfen und verwerfen. Früher Schreibkrisen, heute keine Zeit mehr, Krisen liegen tief

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