Es geschah am Main. Gitte Loew

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Es geschah am Main - Gitte Loew

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Er starrte lustlos zum Fenster hinaus. Ein komisches Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Zwischen all der Angst stieg Ärger in ihm hoch. Unzählige Male war das Thema Altenheim im Kreis der Familie besprochen worden, aber sie hatte sich immer geweigert umzuziehen. Er griff in Gedanken versunken nach einem Hörnchen, das seine Frau ihm auf den Teller gelegt hatte. Die Angelegenheit hing wie eine dunkle Wolke über ihrem diesjährigen Winterurlaub.

      Nach dem Frühstück wollten sie den Rückruf der Nachbarin abwarten und gingen vorerst nicht zum Skilaufen auf die Piste. Die Ungewissheit machte sie nervös. Sie starteten stattdessen zu einem Spaziergang in Richtung Ettelsberg und blickten sehnsüchtig auf die Wintersportler. Die Seilbahn ist die einzige im Rothaargebirge und überwindet 235 Höhenmeter. Uli stöhnte leise vor sich hin. Heute war optimales Wetter zum Skilaufen. Verdammter Mist. Wütend stampfte er mit den Stiefeln in den Schnee.

      ***

      In Frankfurt nahm derweilen Marlies Steinacker den Schlüsselbund vom Haken, steckte ihr Handy ein und machte sich auf den Weg ins Nachbarhaus. Das Jahr ging zu Ende und überall lag Schnee. Sie versuchte, möglichst trockenen Fußes das andere Gebäude zu erreichen. Passanten huschten eilig an ihr vorüber. Auf den letzten Augenblick wurden noch schnell Dinge für den Jahreswechsel eingekauft. Die weiße Schneepracht verschwand unter den vielen Autoreifen und übrig blieb nur grauer Matsch am Rande der Fahrbahn.

      Frau Möller wohnte im ersten Stock. Marlies klingelte an der Haustür. Es rührte sich nichts. Sie stieg die Treppen hoch, schellte noch einmal an der Wohnungstür und schloss erst dann auf. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr ein modriger Geruch entgegen. Vermutlich lüftete Frau Möller zu wenig. Marlies spürte Übelkeit ins sich aufsteigen und rief nach ihr mit leiser Stimme:

      „Hallo, Ruth, wo bist du?“

      Nichts rührte sich. Sie ging langsam in Richtung Küche. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Im ersten Moment sah alles wie immer aus. Doch dann sah sie Frau Möller. Sie lag auf dem Fußboden, etwas verdeckt vom Küchentisch, der in der Mitte des Raumes stand. Marlies‘ Herz begann schneller zu schlagen und ihr Mund war mit einem Mal trocken. Sie flüsterte:

      „Ruth, ist dir etwas passiert?“

      Als sie um den Tisch herum lief und näher an die Frau herantrat, sah sie die offenen Augen. Frau Möller starrte an die Decke. Ihre rechte Gesichtshälfte war dunkelblau verfärbt und geschwollen, an ihrem Mund klebte Blut und war vom Kinn am Hals heruntergelaufen. Auf den braunen Fußbodenfliesen hatte sich eine Blutlache gebildet. Die Tote hielt die Arme vor die Brust, so als ob sie sich schützen wolle. Ihre helle Bluse war voller Blut.

      Marlies spürte, wie ihre Beine zu zittern begannen, und sie griff nach der Stuhllehne, um sich festzuhalten. Plötzlich glaubte sie, ein Geräusch zu hören, und drehte sich erschrocken um. War der Täter womöglich noch in der Wohnung? Voller Angst rannte sie zur Flurtür zurück und stürmte aus der Wohnung. Sie hetzte die Treppe hinunter, als ob jemand hinter ihr her wäre und stieß die Haustür auf. Außer Atem blieb sie auf der Straße Atem stehen. Ihr war schlecht vom Anblick der Toten. Das war nicht mehr die nette Nachbarin, die immer ein Lächeln auf den Lippen hatte. Ein wachsbleiches Gespenst lag da oben in der Wohnung. Marlies musste sich am Laternenpfahl festhalten und keuchte nach Luft. Es dauerte eine Weile, bis sie die 110 wählen konnte. Eine Männerstimme drang an ihr Ohr:

      „Hier spricht die Polizei, was ist passiert?“

      Frau Steinacker schluckte und gab stotternd die Adresse bekannt und berichtete, wie sie Frau Möller gefunden hatte.

      „Bleiben Sie bitte in der Wohnung. Wir schicken eine Streife zu Ihnen und den Notarztwagen.“

      „Ich stehe vor dem Haus. Mir ist ganz schlecht.“

      „Die Kollegen sind sofort bei Ihnen.“

      Vermutlich dauerte es nicht lange, aber es fühlte sich für Marlies wie eine Ewigkeit an. Als das Auto endlich um die Ecke gefahren kam und die Beamten ausstiegen, zeigte sie mit dem Finger auf das Klingelschild:

      „Ruth Möller, erster Stock, rechts. Ich kann nicht noch einmal in die Wohnung gehen. Ich bleibe hier und warte.“

      Die Männer nickten, ohne ein Wort zu sagen, wandten sich ab und stiegen die Treppe hinauf. Kaum das die Beamten im Haus verschwunden waren, klingelte ihr Handy. Es war der Sohn von Ruth Möller:

      „Marlies, was ist los? Warum meldest du dich nicht?“

      „Uli, deine Mutter ist in der Küche umgefallen. Ich glaube, sie lebt nicht mehr. Ich habe die Polizei gerufen.“

      Es war einen Augenblick mucksmäuschen still.

      „Hatte sie einen Schlaganfall?“

      „Du, das weiß ich nicht. Du musst nach Frankfurt kommen. Ich kann hier nichts mehr tun und bin völlig fertig.“

      „Sag der Polizei, dass wir unseren Urlaub abbrechen und nach Frankfurt fahren. Und schreib dir auf, mit welchem Arzt du gesprochen hast, damit wir wissen, an wenn wir uns wenden müssen.“

      „Bis dann Uli“, schluchzte sie und legte schnell auf. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Ruth Möller brauchte keinen Arzt mehr. Marlies spürte plötzlich die Kälte. Sie trug nur ein dünnes Sweatshirt und stand noch immer auf der Straße. Schlotternd vor Kälte ging sie in ihre Wohnung zurück.

      Kapitel 4

      Es war der 31. Dezember und diesmal hatte sie der Dienstplan erwischt. Hanna Wolf, Kommissarin vom K13 der Frankfurter Kripo, musste zusammen mit ihrem Kollegen Torsten Schwarz Dienst schieben. Silvester war bei den Kollegen nicht sehr beliebt. An diesem Tag stolperten mehr Betrunkene als sonst durch Frankfurt. Die Krankenhäuser hatten jede Menge Unfälle mit Feuerwerkskörpern zu versorgen und die Männer der Feuerwehr saßen buchstäblich auf heißen Kohlen. Dass die Kriminalpolizei an Silvester zu einem Mord gerufen wurde, kam allerdings nicht so häufig vor. Doch in diesem Jahr sollte alles anders sein.

      Eine Frau aus dem Stadtteil Fechenheim hatte sich über den Notruf gemeldet und berichtet, eine tote Frau gefunden zu haben. Die Kollegen des K13 machten sich auf den Weg zum Tatort. Kommissar Torsten Schwarz saß am Steuer. Einen Tag vor Neujahr quälte sich eine noch größere Blechlawine als sonst Richtung Hanauer Landstraße und es ging einfach nicht voran. Hanna griff zur Leuchte und klemmte das Signal auf das Dach des Wagens. Langsam wichen die Fahrzeuge zur Seite und bildeten eine Gasse. Doch die Kripo konnte trotzdem nur im Schritttempo weiterfahren. Besonders die LKWs, die Richtung Offenbach oder stadtauswärts nach Hanau fahren wollten, blockierten die Straße. Torsten fluchte leise vor sich hin.

      „Kein Stress. Die Tote läuft uns nicht weg“, meinte Hanna ruhig.

      „Wahrscheinlich pennen die Autofahrer noch“, grummelte Torsten.

      Die Kommissarin erwiderte nichts, sondern blickte noch einmal auf das Display ihres Handys. Der Kollege hatte ihr im Telegrammstil eine Mitteilung geschickt. Weibliche Leiche. Tatort Baumertstraße. Vielleicht war es ein Familiendrama. Der Jahreswechsel ruft nicht bei jedem Begeisterung hervor. Hanna sah sich den Punkt im Navi genauer an. Sie würden bald dort sein.

      Links und rechts der Hanauer Landstraße kann man die Ödnis von Fechenheim bewundern. Baumärkte, Tankstellen, der alte Neckermann-Bau und viele Autohäuser. Keine besonders einladende Gegend. Kurz vor der Mainkur bog Torsten rechts in die Straße Alt-Fechenheim ein. Der Stadtteil war früher ein Fischerdorf am Main, von dem nichts mehr übrig geblieben

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