Das Eidolon. David Pawn

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Das Eidolon - David Pawn

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schüttelte die Tote wie ein ungezogenes Kind. „Warum? Warum hast du so etwas getan? Antworte mir, Elvira.“

      Tränen rannen über seine Wangen und tropften auf das blasse Gesicht der Verstorbenen. Der Blutstrom, der aus beiden Pulsadern noch austrat, war nur noch ein spärliches Rinnsal. Das Herz hatte seine Tätigkeit als Pumpstation bereits eingestellt, der Blutdruck war damit auf null zurückgegangen. Herr Binder warf sich in wilder Verzweiflung über die Tote und umarmte sie, als könne er sie mit seiner Lebenskraft von neuem erwecken. Trauer überflutete seinen Verstand. Er blickte mit tränenverschleiertem Blick in das blutbesudelte Schlafzimmer. Dort erblickte er den zertrümmerten Spiegel, sah die Scherben, die überall herumlagen, und wusste, wie es geschehen war. Sekundenlang starrte er mit hypnotisiertem Blick auf das Bild im Schlafzimmer und sah dabei den Suizid seiner Frau wie in einem Film vor sich ablaufen. Als er sah, wie sie den Spiegelscherben zum ersten Mal ansetzte, um ihre Pulsader zu öffnen, schrie er laut auf, als könne er so aufhalten, was bereits vor einer Viertelstunde geschehen war. Aber das Trugbild hörte ihn nicht, das grausige Schauspiel lief bis zum Ende vor ihm ab.

      Herr Binder wusste in seiner Trauer und Verzweiflung nicht, was er tat. Wie trunken erhob er sich, wankte zur Vordertür und dann auf die Straße. Er torkelte die Hauptstraße entlang in Richtung Dorfzentrum und rief dabei fortwährend den Namen seiner Frau, als hätte diese sich lediglich im Ort verirrt und läge nicht ausgeblutet im Türrahmen zwischen Korridor und Schlafzimmer der heimatlichen Wohnung. Ein Auto passierte Herrn Binder, der Fahrer zeigte dem offenbar sinnlos betrunkenen Fußgänger den Vogel, ehe er Gas gab und sich entfernte. Als Herr Binder in Höhe der Fleischerei Friedrich war, wurden die ersten Dorfbewohner auf sein merkwürdiges Verhalten aufmerksam. Herr Binder galt als sehr korrekter Mitbürger. Man war es von ihm keineswegs gewöhnt, dass er am Sonntagvormittag auf der Straße randalierte.

      Februar

      Der schneereiche Januar ist von einem frostig kalten Februar abgelöst worden. Das Thermometer zeigt selten Werte über zehn Grad Minus an, in den Nächten sind zwanzig Grad Frost seit einer Woche keine Seltenheit mehr. Der Michaelisbach ist vollständig von einer dicken Eisdecke bedeckt, die täglich viele Kinder zum Schlittschuhlaufen anlockt. Sogar einige der Erwachsenen wagen sich auf das Eis. Der Schnee, der im Januar überreichlich gefallen war, ist zu einer harten Kruste zusammengefroren. An den Straßenrändern türmen sich skurrile Eisberge, die eine leicht schmutziggraue Farbe angenommen haben.

      Die Erde ist auf zehn Zentimeter Tiefe hart gefroren. Wer jetzt eine Grube ausheben muss, vielleicht um ein geplatztes Wasserrohr in seinem Garten zu erreichen, hat Schwerstarbeit zu verrichten.

      Unumgänglich ist diese harte Tätigkeit auch für Eberhardt Göttig. Er ist von der Gemeinde zur Pflege der Anlagen in St. Michael bestellt und in dieser Eigenschaft übt er gleichzeitig das Amt eines Totengräbers aus. Herr Göttig geht dieser Arbeit schon mehr als fünfzehn Jahre nach. Er hat in manchem kalten Winter dafür gesorgt, dass der eine oder andere liebe Verstorbene seine wohlverdiente letzte Ruhe unter der harten Erde erhielt. Der Winter, so philosophierte Herr Göttig manchmal im Kreise seiner Skatbrüder, ist die Jahreszeit der Toten. Wenn rings die Natur im weißen Leichentuch des Schnees ruht, zieht es auch den Menschen hin zu seinem Ende. Wir sehen aus den Fenstern unserer Häuser die karge, aller Buntheit beraubte Landschaft, sehen grau-braune, endlos scheinende Felder, Bäume, die mit dunklen Klauenfingern verzweifelt in die kalte Winterluft greifen, wir sehen den kleinen Tod der Natur und denken an unseren eigenen. Und wenn wir den Tod rufen, dann erscheint er uns auch. So sah es der fünfzigjährige Eberhardt Göttig, und er erzählte es allen die es hören wollten gern wieder und wieder.

      Herr Göttig stand in einer schwarzen Wattejacke auf dem Friedhof von St. Michael. Er stützte seine schwieligen Hände auf den Spaten, mit dem er gerade den härtesten Teil der Arbeit an dem frischen Grab zu seinen Füßen beendet hatte. Natürlich war der eigentliche Aushub bereits am Tag zuvor mit dem neuen Kleinbagger verrichtet worden, aber für den Feinschliff brauchte es noch Handarbeit.

      Seine dunkelbraunen Augen blickten an der Kirche vorbei hinunter auf die Hauptstraße von St. Michael. Ein Lieferwagen mit dem Aufkleber einer bekannten Discount-Kette rumpelte vorüber. Er war vermutlich unterwegs nach Neustadt, um seine Waren loszuwerden.

      Herr Göttig folgte dem Lieferwagen mit den Augen, bis dieser in Höhe des Erbgasthofs um die große Kurve der Hauptstraße bog und damit aus dem Blickfeld verschwand. Vor dem Erbgasthof stand ein dunkelblauer OPEL-Calibra. Er hatte eine Frankfurter Nummer, Frankfurt/Main versteht sich. Im kalten Licht der Februarsonne glänzte sein Lack verführerisch, er lockte vom ersten Tag seines Auftauchens Schaulustige an. Er war kein besonderer Wagen, kein Gefährt, für das man einen oder mehrere Jahresgehälter hinblättern musste, aber er passte nicht zum Erbgasthof. Das war es.

      Der Wagen passte genau so wenig zum Erbgasthof wie sein Besitzer zu St. Michael. Eberhardt Göttig spuckte in die frisch ausgehobene Grube. Dieser Macho, dieser Wessi. Herrn Göttig fiel einfach kein besseres Wort ein, um ihn zu beschreiben. Er hatte ihn zum ersten Mal vor acht Tagen gesehen, als er sich mit seinen Freunden zum allwöchentlichen Skatabend traf. Sie hatten zu fünft am Stammtisch gesessen, da kam dieser junge Schnösel in einem Anzug zur Tür herein, wie ihn Eberhardt Göttig allenfalls zur Hochzeit seines Sohnes Erwin tragen würde, wenn dieser Dummkopf je eine Frau fand. Der Typ aus Frankfurt hatte an einem Tisch am Fenster Platz genommen. Er hatte sich nicht hingesetzt, nein, er hatte wahrlich Platz genommen. Vielleicht hatte er erwartet, die Stammtischgesellschaft würde ihm ein Begrüßungskonzert geben. Dieser neue Gast saß dort, als hätte er einen Besenstiel im Kreuz. Er bestellte mit der Grazie einer Ballerina und aß, als wäre er im Ritz, nicht im Erbgasthof. Was wollte so ein Typ in St. Michael?

      Herr Göttig schüttelte ratlos den Kopf und setzte seine Arbeit an der Grube fort. Es war das Grab für Dietmar Neubert. Göttig hatte ihn gut gekannt. Sie waren ein Jahrgang. Aber gemocht hatte man den Dietmar in der Schule schon nicht, als der noch in der Bank gesessen hatte. Dietmar war ein Streber gewesen. Einer von denen, die von dem vielen Wissen, das sie haben, keinem auch nur eine Unze abgeben möchten. Wenn es ein Wort gab, das Dietmar Neubert als Schüler perfekt beherrschte, so war es ICH. Ich, ich, immer nur ich.

      Später, nach dem Krieg, war Herr Neubert dann selbst Lehrer geworden. Er war mit fünfundzwanzig in die Partei eingetreten und hatte damit seinen weiteren Aufstieg begründet. Erst war er Stellvertreter, dann selbst Direktor der Allgemeinbildenden Oberschule von St. Michael, die im Jahre 1975 unter seiner Leitung den Namen „Juri Gagarin“ erhielt, ein Name, von dem sich die Schule 1990 wieder trennte. Allerdings hatte man sich noch nicht von Herrn Neubert getrennt, der die allgegenwärtige Partei im Herbst 1989 rechtzeitig verlassen hatte, um geläutert in das neue Zeitalter zu schreiten.

      Es gab in St. Michael einige Leute, die nicht besonders gut auf Herrn Neubert zu sprechen waren. Besser gesagt, es gab wahrscheinlich kaum einen im ganzen Ort, der diesen Lehrer wirklich gemocht hatte. Am wenigsten mochten ihn die, die von ihm unterrichtet worden waren. Eigentlich hatte der gewandte Herr Neubert sich immer als Lehrer einer neuen, von Liebe zum Nächsten gekennzeichneten Zeit gegeben, doch in Wahrheit wäre er eher ein guter Lehrer der preußischen Offiziersschule zur Zeit des Alten Fritz gewesen. Hätte es in seiner Macht gestanden, so wäre an der Allgemeinbildenden Oberschule „Juri Gagarin“ von St. Michael die Prügelstrafe eingeführt worden. Die Schüler fürchteten ihn. Er reagierte mit wahren Tobsuchtsausbrüchen, wenn einer der Schüler einmal seine Hausaufgaben vergessen hatte. Wurde innerhalb kurzer Zeit auf eine seiner Fragen mehrmals falsch geantwortet, ließ er den Unterricht im Stehen weiterführen oder er verteilte Tadel wegen Schlafens im Unterricht an den Nächsten, der falsch antwortete.

      Oder an einen seiner Lieblinge. Er hatte in jeder Klasse, die er unterrichtete, einen oder zwei besondere Lieblinge, die er mehr oder weniger drangsalierte. Er stellte ihnen Fangfragen, ließ sie zu Themen sprechen, die er noch gar nicht oder vor ewigen Zeiten behandelt hatte. Sie waren stets die Ersten, wenn es

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