Sehen will gelernt sein. Wilfred Gerber

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Sehen will gelernt sein - Wilfred Gerber

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Sozialbausiedlung gehörten solche Vorkommnisse zum Alltag, waren schnell vergessen, die richtigen Verbrecher standen hier an jeder Ecke.

      Die Wohnungstür hatte sich hinter Wolfi geschlossen, da hagelte es Ohrfeigen. Der Mutter liefen die Tränen, sie hörten nicht auf zu schlagen, bis ihr Körper erschöpft aufgab, und sie verzweifelt stammelte. „Ich wusste es schon immer. Bub, verfluchter, du taugst nichts. Wart ab, bis der Vater kommt. Dann kannst du was erleben. Wart nur ab, Bub.“

      Sie drehte den Zimmerschlüssel von außen zwei Mal um, blieb ratlos vor der verschlossenen Tür stehen, kam wieder zu sich und eilte in die Küche zu den inzwischen angebrannten Schnitzeln.

      Mein Fehler! Ich habe mich erwischen lassen, warf sich Wolfi wütend im Kinderzimmer vor, das er, wenn er Glück hatte, nur für den Rest des Tages nicht mehr verlassen durfte. Seine Freunde auf der Straße vor dem Haus würden heute vergeblich auf ihn warten. Aber wenigstens hatten sie Mo nicht erwischt. Er würde dichthalten und niemals einen Freund verraten.

      Das hatte er auch nicht in all der Zeit, die Ehre verbot es ihm und das ungeschriebene Gesetz der Siedlung. Wenn sich aber doch einmal einer hinreißen ließ, der Polizei, aus welchem Grund auch immer, einen Tipp zu geben, hatte er verspielt und bekam in der Gegend keinen Fuß mehr auf den Boden. Wolfi hatte sich nach der Schule vom Meister nichts bieten lassen, sich sofort mit ihm überworfen und die Lehre zum Automechaniker schon nach einem halben Jahr geschmissen, doch das Fußballspielen hatte er bis auf den heutigen Tag nicht aufgegeben. Aus dem schmächtigen, hyperaktiven Burschen war ein muskulöser, durchtrainierter junger Mann mit halblangen, blonden Locken und wachen Augen geworden.

      Als Kind neigte er, wurde es brenzlich, zum Stottern, inzwischen war seine Sprache aber geschmeidiger geworden, man nahm ihr den einfachen Arbeiter, den selbständigen Handwerker oder Handelstreibenden, den gebildeten, höheren Angestellten oder Akademiker wie selbstverständlich ab. Mit dem Klang der Stimme konnte er bis in die kleinste Nuance den gewünschten Rahmen für jede Atmosphäre zaubern, die für das freundschaftliche Gespräch, die für die selbstbewusste Verhandlung oder die für die leicht arroganten Vorhaltungen eines Chefs.

      Jede abkömmliche Mark gab er für Kleidung aus, von den einfachen Ausführungen bis hin zu Nobelmarken, dass er die verschiedenen Typen selbst aus dem Stegreif und zu jeder Zeit in Gestalt und Habitus glaubhaft spielen konnte.

      Über die Zukunft nach der abgebrochenen Lehre machte er sich keine Sorgen. An Geld kam er, wenn er es denn brauchte, immer ran. Das Team Wolfi Wagner und Reinhard Amper war einfach unschlagbar.

      Die Kneipe in der Frankfurter Vorortsiedlung lag versteckt im Hinterhof und wurde von allen aus gutem Grund nur Tal des Todes genannt. Die Sitten in ihr waren rau aber klar. Hielt man sich an sie, war man sicher, doch Verstöße jeder Art wurden ausnahmslos hart geahndet, wenn es sein musste, auch mit körperlicher Gewalt.

      Wolfi Wagner stand siegesgewiss am Billardtisch, versuchte, die schwarze Kugel in die linke, obere Tasche zu versenken, als die Eintracht ihr erstes lang herbeigesehntes Tor schoss.

      Der frenetische Jubel ließ ihn im entscheidenden Bruchteil einer Sekunde die Konzentration verlieren, das sicher geglaubte Spiel war dahin. Verärgert legte er den letzten Zwanzigmarkschein auf den Rand, ging mit hängenden Schultern zurück zu den Freunden am großen Tisch vor dem Fernseher, griff sich das Glas, leerte es, obwohl das Bier inzwischen schal geworden war, in einem Zug.

      „Reinhard, ich bin blank. Wir müssen wieder arbeiten gehen.“

      „Jetzt nicht, Wolfi“, würgte ihn der Freund ab. „Wir reden nachher. Lass mich das Spiel noch zu Ende sehen. Für heute habe ich schon was ins Auge gefasst.“

      Die Eintracht hatte verloren. Die Straße war um vier Uhr in der Nacht ruhig und menschenleer. Wolfi und Reinhard Amper legten die wenigen Schritte vom Auto bis zur dunklen, verlassenen Kneipe an der Ecke schnell zurück.

      „Was ist?“, wurde Amper ungehalten. „Mach die Tür auf oder willst du hier Wurzeln schlagen?“

      Zwei kurze Blicke genügten. Wolfi wusste sofort, welches der Werkzeuge er aus der Rolle ziehen musste und machte sich an die Arbeit. Nach einer Minute sprang die Tür lautlos auf, trotzdem drängte Amper zur Eile. „Jetzt mach schon“, flüsterte er. „Die beiden Automaten hängen im Hinterzimmer. Ich habe sie beobachtet. Sie müssten gestopft sein. Es sollte sich für uns lohnen.“

      „Wir brauchen kein zusätzliches Licht. Du kannst die Taschenlampe stecken lassen. Geh zur Tür, Reinhard. Ich komme hier alleine klar.“ Wolfi spürte wieder die seltsame Ruhe in sich. Die Automaten waren Standardmodelle, jeder Arbeitsschritt, oft geübte Routine, lief wie am Schnürchen ab. Er hatte die speziellen Werkzeuge aus handelsüblichen durch schleifen, hämmern und schweißen auf der Werkbank im Keller seines Vater zu dem gemacht, was sie jetzt waren, Präzisionsinstrumente.

      Bald klimperten die Münzen aus den übervollen Speichern der Automaten in Wolfis Lederbeutel.

      „Ich bin fertig.“ Die Werkzeuge lagen schon in der Rolle, wohlverwahrt in ihren speziellen Fächern. „Wir können gehen.“

      Reinhard sicherte die Straße. Wolfi ließ die Kneipentür leise ins Schloss fallen. Langsam, mit übervorsichtigen Schritten nächtlicher Zecher gingen sie zurück zum Auto. Amper hatte es vorsorglich im Schatten der Laterne geparkt, dass kein zufälliger Zeuge sie wiedererkennen würde.

      Er steckte den Zündschlüssel ins Schloss, legte den ersten Gang ein, gab behutsam Gas und fuhr erleichtert davon.

      „Ich habe ein ungutes Gefühl“, sagte Wolfi, als Amper um die Ecke bog, und die nächste Kneipe in Sicht kam. „Wir machen Schluss!“

      „Deinem Gefühl sollten wir wie immer trauen. Die Münzen kann ich auch noch morgen wechseln lassen. Ich habe ein paar Scheine in der Tasche. Boris´ Kneipe am Bahnhof hat uns wieder!“ Amper grinste breit und wendete mitten auf der Straße.

      Nur ein paar frühe Zecher hatten sich am nächsten Abend kurz vor sieben in das Tal des Todes verirrt. Reinhard Amper und ein Unbekannten standen am Tresen. Wolfi hatte gerade die Schwelle überschritten, als er ihn mit seinen riesigen Pranken zu sich winkte. „Das ist mein Freund Lothar Busse, und das ist mein alter Freund Wolfi Wagner“, stellte er die beiden vor. „Für seine Feuerschutzfirma sucht Lothar einen fähigen, aufgeweckten Mitarbeiter, da habe ich gleich an dich gedacht. Die Einzelheiten besprecht ihr am besten unter euch. Dazu braucht ihr mich nicht.“ Amper ließ sie allein und gesellte sich zu den Billardspielern.

      „Ich will gleich zur Sache kommen. Ich verkaufe Hausbesitzern Feuermelder und Sicherheitssysteme. Dabei sollst du mir helfen und den ganzen Schriftkram erledigen, das ist nicht so meine Sache. Meinetwegen kannst du gleich morgen anfangen und alles vor Ort lernen. Ich zahle dir zehn Mark bar auf die Hand. Was ist jetzt, Wolfi? Willst du den Job?“

      3

      Moritz Kahl hatte für heute den Antiquitätenladen abgeschlossen. Er ging zielstrebig ins Hinterzimmer, setzte sich an den Schreibtisch und begann die Papiere, die er gestern zu hohen Stapeln aufgeschichtet hatte, eilig durchzusehen. Er suchte nach Fragmenten und Entwürfen des „Puppen-Menschenspiels“.

      Entgegen seines laut verkündeten Vorsatzes, das Schreiben zu lassen, wollte er das Stück jetzt doch zu Ende bringen.

      Es war nicht so, dass er in dieser Zeit überhaupt nichts geschrieben hätte, ganz konnte er es nicht lassen, einige Ideen und Gedichte hatte er notiert, für später, doch die neue Arbeit am Stück,

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