Jünglingsjahre. Лев Толстой
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»Aber dennoch, was denkst du wohl?« fuhr ich fort zu fragen.
»Ja, wahrscheinlich haben Sie jemand zu begraben, und sind gefahren, um den Platz zu kaufen«, sagte er.
»Nein, Bruder, weißt du, warum ich hingefahren bin?«
»Wie kann ich es wissen, Herr?« wiederholte er.
Die Stimme des Kutschers klang mir so gut, daß ich mich entschloss, zur Erbauung seines Gemütes ihm den Grund meiner Fahrt zu erzählen und ihm sogar das Gefühl zu schildern, das ich durchkostet hatte.
»Willst du, so erzähle ich dir's. Also siehst du –«
Und ich erzählte ihm alles, und beschrieb ihm alle meine herrlichen Gefühle; selbst jetzt noch erröte ich bei der Erinnerung daran.
»So, so«, sagte der Kutscher ungläubig.
Dann saß er lange schweigend und unbeweglich da, zupfte von Zeit zu Zeit an den Schößen seines Mantels, der immer wieder unter seinem Bein zum Vorschein kam, während sein Fuß in dem großen Stiefel auf dem Vorderteil des Kutschbockes auf und nieder sprang. Ich glaubte schon, er denke ebenso über mich wie mein Beichtvater, das heißt er sei der Meinung, daß es einen zweiten so prächtigen jungen Mann wie mich in der Welt nicht mehr gebe; da wandte er sich plötzlich zu mir um:
»Ja, ja, Herr, das ist Herrschaftssache.«
»Was?« fragte ich.
»Ihre Sache da, das ist eine Herrschaftssache«, wiederholte er, mit dem zahnlosen Munde schmatzend.
»Nein, er hat mich nicht verstanden«, dachte ich und sprach nicht mehr mit ihm, bis wir vor unserem Hause hielten.
Wenn sich das Gefühl der Rührung und Frömmigkeit auch nicht während der ganzen Fahrt in mir erhielt, so empfand ich trotz der Menschenmenge, die im hellen Sonnenschein sich durch die Straßen drängte, eine gewisse Genugtuung darüber, daß ich jenes Gefühl überhaupt gehabt hatte; aber kaum war ich vor unserm Hause angelangt, als diese Genugtuung sich vollständig verlor: mir fehlten die zwei Zwanziger, um die Droschke zu bezahlen. Der Haushofmeister Gabriel, dem ich schon einiges schuldig war, wollte mir nichts mehr borgen. Als der Droschkenkutscher sah, daß ich zweimal über den Hof lief, um mir Geld zu verschaffen, erriet er wahrscheinlich, weshalb ich hin und her rannte, stieg vom Bock und begann – obgleich er mir so gutmütig erschienen war – laut und mit dem offenbaren Wunsch, mich zu verletzen, darüber zu sprechen, daß es Spitzbuben gebe, die für die Fahrt nichts zu bezahlen pflegen.
Zu Hause schlief noch alles, so daß ich nur von der Dienerschaft die zwei Zwanziger borgen konnte. Endlich bezahlte Wassilij für mich die Droschke gegen mein nachdrücklich gegebenes Ehrenwort, dem er (ich sah es seinem Gesichte an) nicht den geringsten Glauben schenkte; er zahle nur, weil er mich liebte und sich an eine Gefälligkeit erinnerte, die ich ihm einmal erwiesen hatte. So waren meine Empfindungen wie Rauch verflogen. Als ich mich ankleidete, um mit allen andern in die Kirche zur heiligen Kommunion zu gehen, und es sich herausstellte, daß mein Anzug nicht hergerichtet war und daß ich ihn nicht anziehen konnte, beging ich eine ganze Menge Sünden; nachdem ich einen andern Anzug angelegt hatte, ging ich zur Kommunion in einem seltsamen Zustande von Zerstreutheit und mit vollkommenem Mißtrauen gegen meine eigenen schönen Eigenschaften.
Wie ich mich zum Examen vorbereitete
Am Donnerstag in der Osterwoche fuhren Papa, meine Schwester und Mimi mit Katjenka aufs Land, so daß in Großmamas ganzem großen Hause nur Wolodja, ich und St. Jérôme zurückblieben. Die Stimmung, in welcher ich mich am Tage der Beichte und während der Fahrt ins Kloster befunden hatte, war ganz vergangen und hatte nur eine verworrene, wenn auch angenehme Erinnerung zurückgelassen, die immer mehr und mehr von den neuen Eindrücken des ungebundenen Lebens verdrängt wurde.
Das Heft mit der Aufschrift »Lebensregeln« war mit den alten Schulheften beiseite gelegt. Obgleich der Gedanke an die Möglichkeit, Regeln für alle Lebenslagen zusammenzustellen und sich immer nach ihnen zu richten, mir gefiel und mir außerordentlich einfach und zugleich erhaben erschien, und obgleich ich beabsichtigte, ihn zu verwirklichen, so hatte ich doch gleichsam vergessen, daß dieses sofort zu geschehen hatte, und verschob es immer wieder auf unbestimmte Zeit. Mich tröstete nur das eine, daß jeder Gedanke, der mir jetzt in den Sinn kam, genau auf irgend eine der Unterabteilungen meiner Grundsätze und Pflichten paßte: entweder auf die Grundsätze über die Beziehungen zu den Nächsten, oder zu mir selbst, oder zu Gott. »Ich werde es dann auf dieses oder jenes beziehen und ebenso noch viele, viele Gedanken, die mir dann über diesen Gegenstand kommen werden«, sagte ich zu mir selbst. Oft frage ich mich jetzt: wann war ich wohl besser und gerechter, damals, als ich an die Allmacht des menschlichen Geistes glaubte, oder jetzt, wo ich die Kraft der Entwicklung verloren habe und an der Kraft und Bedeutung des menschlichen Geistes zweifle? Und ich kann mir keine sichere Antwort geben.
Das Bewusstsein meiner Freiheit und jenes Frühlingsgefühl der Erwartung von irgend etwas Unbestimmtem, von dem ich schon gesprochen habe, erregten mich dermaßen, daß ich mich gar nicht mehr beherrschen konnte und mich sehr schlecht zum Examen vorbereitete. Zuweilen arbeitete ich am Morgen im Unterrichtszimmer und wußte, daß ich unbedingt arbeiten müsse, weil morgen das Examen über einen Gegenstand sein werde, in welchem ich noch ganze zwei Fragen gar nicht durchgenommen hatte; doch da zieht plötzlich durch's Fenster irgend ein Frühlingsduft, – mir ist, als müsse ich mich durchaus an irgend etwas erinnern, die Hände lassen unwillkürlich das Buch sinken, die Füße beginnen wie von selbst sich zu bewegen und auf und nieder zu wandern, und im Kopfe ist es, als hätte jemand auf eine Feder gedrückt und eine Maschine in Gang gesetzt: im Kopfe beginnen so leicht und natürlich verschiedene bunte, lustige Gedanken zu tanzen, mit einer solchen Geschwindigkeit, daß man kaum ihren Glanz bemerkt; und eine Stunde oder zwei vergehen unmerklich. Oder ich sitze am Abend bei der Talgkerze in meinem Zimmer; plötzlich sehe ich auf einen Augenblick vom Buch auf, um das Licht zu putzen oder mich auf dem Stuhle zurechtzusetzen, und bemerke, daß überall, hinter der Tür, in den Ecken, Finsternis herrscht, und höre, daß es im ganzen Hause still ist, – und wieder kann ich nicht anders, als einhalten und der Stille lauschen und auf das Dunkel der nach dem finsteren Zimmer geöffneten Tür blicken und lange, lange unbeweglich dasitzen oder aber hinuntergehen und durch alle leeren Zimmer schreiten.
Oft saß ich auch am Abend lange unbemerkt im Salon und lauschte den Tönen der »Nachtigall«, welche Gascha, allein bei der Talgkerze im großen Saale sitzend, mit zwei Fingern auf dem Klavier klimperte. Und gar, wenn der Mond schien, da konnte ich durchaus nicht anders, als vom Bette aufstehen, mich an das in den Vorgarten führende Fenster lehnen und lange dasitzen, das mondbeschienene Dach von Ssaposchnikows Haus und den schlanken Glockenturm unserer Pfarrkirche betrachtend oder in den Abendschatten des Zimmers und des Gebüsches, der über den Fußpfad des Vorgärtchens fiel, starrend, so daß ich am andern Morgen mit Mühe erst um zehn Uhr erwachte.
Wenn die Lehrer nicht gewesen wären, die mich immer noch unterrichteten, und St. Jérôme, der von Zeit zu Zeit meinen Ehrgeiz unwillkürlich anstachelte, und vor allem, wenn ich nicht gewünscht hätte, in den Augen meines Freundes Nechljudow ein tüchtiger Bursche zu sein, das heißt das Examen ausgezeichnet zu bestehen, was nach seinen Begriffen sehr wichtig war, – wenn alles dies nicht gewesen wäre, so hätten der Frühling und die Freiheit es bewirkt, daß ich selbst alles das, was ich früher wußte, vergessen hätte und auf jeden Fall beim Examen durchgefallen wäre.
Das Geschichtsexamen
Am 16. April betrat ich unter