Thalia. Dietrich Novak
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»Demnach führen Sie eine reine Künstlerpension?«, fragte Valerie.
»In der Hauptsache schon. Hin und wieder verirrt sich auch einmal ein Gast hierher, der noch nie Bühnenluft geschnuppert hat.«
»Daher der Name „Thalia“. Wie lange gibt es Sie schon?«
»Seit den frühen Achtzigern. Damals war die Miete noch ein Bruchteil von heute. Vielleicht auch, weil die Straßenbahn direkt am Haus vorbeifuhr. Aber mein alter Mietvertrag bewahrt mich vor dem Schlimmsten. Wie lange noch, sei dahingestellt. Ich habe immer gehofft, man würde mich eines Tages mit den Füßen zuerst raustragen.«
»Das ist ein gutes Stichwort«, sagte Valerie. »Wem von Ihren „Kindern“ würden Sie einen Mord zutrauen?«
»Keinem, ehrlich gesagt. Wollen Sie damit andeuten, Janto sei ermordet worden?«
»Der Verdacht drängt sich auf. Letzte Gewissheit wird der Autopsiebericht bringen.«
»Nein, wie schrecklich! In meinem Haus. Könnte es sich nicht doch um einen Unglücksfall handeln? Ich meine, er war schließlich starker Allergiker …«
»Umso merkwürdiger, dass sich sein Notfallset nicht in seiner Nähe, sondern im Bad befunden hat«, sagte Hinnerk. »Es sei denn, der Täter hat es dort deponiert. Was können Sie uns über diesen Janto sagen?«
»Ach Gott, er war ein besonders hübscher junger Mann, der wie die meisten hier von einer großen Karriere träumte. Sein Handicap stand ihm dabei etwas im Weg, weil er ständig irgendwelche Medikamente nehmen musste, die ihn mitunter auch etwas benommen machten. Bei der Truppe um Merlin Arus ist er erst seit etwa einem Jahr. Aber wenn sie in Berlin gastieren, wohnen sie immer bei mir.«
»Befand sich dieser Merlin auch auf dem Flur, als man Janto gefunden hat?«
»Nein, jetzt, wo Sie es sagen … Merkwürdig, ich habe ihn nicht gesehen.«
»Wer gehört sonst noch zu der Gruppe?«
»Yola Ahlert – die beiden waren wohl mal ein Paar und haben die Gruppe gegründet –, Erko Baringhaus, Berlind Ebeler, Irmine Rade, Anselm Epke, Marlit Calmer, Myron Bick, Cosima Deter, Apollo Tomkins und Frieder Dilger. Wobei ich die Aufzählung vom Alter her absteigend genannt habe.«
»Demnach handelt es sich um eine gemischte Gruppe, von Jung bis Alt.«
»Alt? Merlin und Erko dürften so Mitte, Ende fünfzig sein. Das ist doch noch kein Alter. Janto war jedenfalls der Jüngste, gleich nach Frieder, Apollo und Cosima. Es ist durchaus von Vorteil, wenn die Rollen mit Schauspielern unterschiedlichen Alters besetzt werden können, ohne allzu viel Maske machen zu müssen. Merlin mag es auch, wenn hin und wieder ein junger Mensch frischen Wind in das Ensemble bringt.«
»Und ausgerechnet dieser Frischling musste jetzt sein junges Leben lassen …«
»Ja, furchtbar, nicht? Das Schicksal geht eben eigene Wege.«
»Gab es irgendwelche Eifersüchteleien innerhalb der Gruppe?«
»Nicht über das übliche Maß hinaus, so viel ich weiß. Sicher, jeder hält sich heimlich für den Begabtesten und meint, den größten Applaus zu bekommen. Um diese Diskussionen zu vermeiden, bedient man sich eines Tricks: Alle treten gemeinsam zur Verbeugung an die Bühnenrampe. Etwas ungewöhnlich, aber es funktioniert.«
»Danke vorerst, Frau Kubaschewski. Wir werden bestimmt noch einmal auf Sie zukommen. Aber jetzt wollen wir die anderen nicht länger warten lassen.«
»Verständlich, sie werden sich ohnehin schon gegenseitig zerfleischen.«
»Eine Frage noch: Ist Ihnen heute Nacht etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Haben Sie Stimmen gehört oder ist Ihnen jemand auf dem Gang begegnet?«
»Nein, es geht immer mal eine Zimmertür, weil sich die beiden Toiletten und das Gemeinschaftsbad auf dem Flur befinden. Ich bin vor dem Fernseher eingedöst und erst durch die Unruhe auf dem Gang wachgeworden. Cosima, die den armen Janto gefunden hat, schrie ja wie am Spieß. Das alarmierte auch die anderen.«
»Danke, dann trotzdem noch eine gute Nacht. Wenn auch eine kurze.«
»Ja, Ihnen auch. Zum Glück gibt es niemanden, der schon um sechs frühstücken will. Sonst könnte ich gleich aufbleiben. Ob ich noch etwas Schlaf finde, weiß ich nicht. Dazu geht mir zu viel im Kopf herum. Also, viel Erfolg! Hoffentlich finden Sie schnell den Schuldigen.«
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