Fahnen und Tränen nahmen kein Ende. Helmut Lauschke
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Die Krolls wohnten im ersten Stock des zweistöckigen Eckhauses Neußer/Wilhelmstraße, in dem die Nippeser Filiale der Kölner Stadtsparkasse im Parterre untergebracht war. Dem Haus schloss sich zur Wilhelmstraße ein kleiner Dachgarten an, auf dem die Jungen spielten und beim Spielen den freien Einblick in die Hinterhöfe der nächsten Häuser hatten. In der Wilhelmstraße gab es die Bäckerei und Konditorei Pollack, von wo morgens die frischen Brötchen, meist waren es Roggenbrötchen wegen Ermangelung an Weizenmehl, gebracht wurden, und wo Mutter das Brot kaufte, wenn es mit der frühen Backerei trotz Fliegeralarm und Bomben noch geklappt hatte. Holte einer der Jungens die Brötchen, dann bekam er manchmal ein kleines Stück Kuchen oder ein paar Plätzchen mit auf den kurzen Heimweg. Bei einem der folgenden Bombardements wurde das zweistöckige Eckhaus von einer Brandbombe getroffen, die bis in den Keller dicht neben dem Luftschutzraum durchschlug. Der Vater ging mit zwei Eimern, die mit Sand gefüllt waren, voraus und bat den kleinen Heinrich, ihm mit dem dritten vollen Eimer zu folgen. Aus nächster Nähe sah er zum ersten Mal in seinem Leben die sechskantige Stabbombe mit dem roten Streifen um den Brennkopf. Der Vater schüttete den Sand aus den drei Eimern über die Bombe und erstickte den Brennkopf rechtzeitig, dass die Entzündung der Bombe unterblieb und das Haus mit der Sparkassenfiliale im Parterre und der Wohnung im ersten Stock vor dem Niederbrennen gerettet wurde. Die Direktion der Stadtsparkasse dankte dem Vater für seinen beherzten Einsatz und überreichte ihm ein sechzehnbändiges Handbuch der Frauenheilkunde [Halban-Seitz: “Biologie und Pathologie des Weibes”].
Im Nachhinein
Fragst du mich, ob ich glücklich war, dann trauere ich um die Sekunde. Fragst du mich, was nicht mehr ist, kommen gleich die Stunden.
Es zieht sich in die Länge, das mit dem Einen und der Einsamkeit. Ich greife nach der Schere, um den Faden durchzuschneiden.
2. Zwischenstation Damerau in Ostpreußen
Fahnen mit gekreuzten Haken
wurden überall getragen.
Durch die Weiten wehten sie,
wurden hoch gehalten.
Da die Bombenangriffe an Häufigkeit und Schwere zunahmen, unter denen die Kinder durch Angst und Schlafstörungen besonders litten, vermittelte der freundliche Kinderarzt Dr. Huysman für Heinrich Kroll und den anderthalb Jahre jüngeren Wolfgang Kroll einen Aufenthalt auf dem ‘Rittergut’ Damerau in Ostpreußen nicht weit von Gerdauen entfernt. Die Kinder sollten mal wieder in Ruhe schlafen können. Das Gut wurde von seiner jüngeren Schwester und ihrem Mann verwaltet. Gerhard, der andere Bruder, der dreieinhalb Jahre älter war als Heinrich, blieb beim Vater in Köln, während die Mutter die beiden jüngeren Söhne in einem Zug mit einer langen Wagenkette nach Ostpreußen brachte. Der Zug durchfuhr Mecklenburg-Vorpommern und den Danziger Korridor. Es war nach Mitternacht, als es in Danzig einen Aufenthalt gab. Soldaten mit umgehängten Karabinern bewachten den wenig gefüllten Zug. Dort wurden Äpfel und Bananen und warme Milch in Pappbechern für die Kinder verteilt. Die Mutter bekam zwei Äpfel, zwei Bananen und zwei Becher mit Milch. Da Bananen den Söhnen unbekannt waren, erklärte die Mutter die Frucht und pellte sie vor ihren neugierigen Augen. Beide aßen die Banane zum ersten Mal im Leben und das mit großem Appetit. Die kräftige Lokomotive mit den großen Rädern des Schnellzugs fauchte mehrere Male, als sie die lange Wagenkette aus dem Danziger Bahnhof herauszog und die Weiterfahrt im Schutz der Dunkelheit der Nacht aufnahm. Die Fahrt führte durch das langgestreckte Hinterpommern. Die beiden Jungen waren auf den bequemen Sitzen des halb besetzten Abteils eingeschlafen, als der Zug in der frühen Morgendämmerung Westpreußen erreichte, wo er am Bahnsteig einer kleinen Stadt eine kurze Station machte. Die Sonne war bereits aufgegangen, als der Zug am Bahnsteig der kleinen ostpreußischen Stadt Gerdauen Halt machte.
Viele Reisende und Mütter mit ihren Kindern stiegen aus den Wagen. Gutsverwalter Lengnick, ein hochgewachsener schlanker Mann der Mittdreißiger mit dunkelblondem Haar und blauen Augen in olivgrüner Gutsherrnkleidung und blanken schwarzen hohen Stiefeln wartete mit seiner blondhaarigen jüngeren Frau Ali, die die jüngere Schwester des Kölner Kinderarztes Dr. Huysman war, auf dem Bahnsteig, um Mutter Kroll mit den beiden Söhnen in Empfang zu nehmen und sie mit der komfortablen Pferdedroschke, einem Zweispänner, zum Rittergut in Damerau zu bringen. Es war eine Fahrt in klarer Luft gesäumt von hohen Birken entlang von ausgestreckten Wiesen und korntragenden Feldern, durch Tannen- und Buchenwälder, vorbei an sauberen Dörfern und Seen mit schwimmenden Enten und Gänsen. Das Sonnenlicht spiegelte sich über dem klaren Wasser, das die leichten Brisen in feinen Wellen bewegte, die zu den Seiten sanft ausliefen. Die Stille der Weite mit den fleißigen Menschen in den Dörfern und auf den Feldern war ein großes Erlebnis, wie die Welt ist, wenn keine Bomben fallen und die Tage und Nächte ohne Angst, das Leben zu verlieren, zu durchschreiten und zu leben sind. Auf den Wiesen weideten in großer Zahl die weißschwarz gescheckten Kühe. Auf anderen Wiesen standen Pferde, die das Kommen der Droschke beobachteten, an die Einzäunung trabten und die im leichten Galopp fahrende Droschke bis zum Zaunwinkel begleiteten. Junge Fohlen sprangen um die Stuten herum, andere tranken am Gesäuge. Roter Mohn säumte die Felder des hochstehenden Getreides. Es war eine einstündige Fahrt durch die weite, friedvolle Natur. Der braune Wallach und die braune Stute hielten den Trab ohne ermahnt zu werden, dass der Gutsherr die Leine locker in der linken Hand hielt und die weidenden Tiere und den Getreidestand zu beiden Seiten des Weges aufmerksam beobachtete. Die hartgummibereiften Räder der Droschke glitten leise und weich über den sandigen Boden. Der Weg war von bunten Blumen und Brom- und Himbeerhecken gesäumt.
Ein kleines Dorf war durchfahren, als der Weg an weitläufigen Apfelplantagen vorbei führte. Reihen hochragender Birken und alte Eichen kamen in Sicht. Drei kleine Bauernhäuser mit kleinen Fenstern und den Eingängen an der Rückseite wurden passiert, auf deren braunroten Schindeldächern Störche nisteten. Die Droschke fuhr in den großräumigen Gutshof ein mit den Scheunen und Ställen zu den Seiten und hielt unter zwei alten Eichen mit dem dichten, hohen und ausladenden Blätterwerk vor den fünf breiten Stufen zum erhöhten Eingang des Herrenhauses mit der großen eichernen Tür. Der Gutsherr half der Mutter vom Wagen und holte den Koffer herunter, während seine jüngere Frau den Buben beim Absteigen unter die Arme griff. Die Ankömmlinge wurden in einen großen, salonartigen Raum geführt, wo auf hochlehnigen Stühlen aus Eichenholz Platz an einem großen Tisch mit einer dicken eichernen Tischplatte genommen wurde. Es wurde zur Brotzeit gebeten, wofür die junge Küchenhilfe den runden Korb mit den großen Bauernbrotscheiben, den Teller mit frischer Landbutter, die Schale mit gekochten Eiern, eine Platte mit großen Scheiben eines würzig geräucherten Schinkens und einen Teller mit selbstgemachter Leber- und Rauchwurst aus der Küche brachte und auf den Tisch stellte. Frau Ali deckte den Tisch mit Tellern, Tassen und Bestecken und stellte die Zuckerdose dazu. Sie ging in die Küche und brachte zwei Gläser mit angewärmter Milch für die Jungen. Dann holte sie aus der Küche die Kanne mit frisch gebrühtem echten Bohnenkaffee, dem das köstliche Aroma vorauseilte, und füllte die Tassen der Erwachsenen, während die Küchenhilfe das gefüllte Milchkännchen auf den Tisch dazusetzte. Die Jungen aßen mit einem Bärenhunger von den Köstlichkeiten, von denen die von Bomben ‘gesegneten’ Menschen in der Stadt nur träumten. Deshalb ging diese Brotzeit in die bleibende Erinnerung ein.
Der Gutsherr und seine Frau erkundigten sich nach den Zuständen in Köln und nach dem Ausmaß der Zerstörung durch die Bombardements. Dabei erwähnte Frau Ali ihren älteren Bruder, den Kinderarzt Dr. Huysman, um den und seine junge Frau mit den vier jungen Töchtern sie sich große Sorgen machte. “Sigurd ist ein sehr sensibler Mensch”, sagte sie und stellte die Frage, wie er das mit den Bomben nur aushält. Mutter Kroll schwieg mit einem roten Kopf, weil sie die spezifisch gestellte Frage nicht beantworten konnte, wenn sie auch mehr als genug die Kellerängste und anderen Nöte durch die Bomben erfahren