Drei starke Geister. Alexandre Dumas
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»Lesen Sie den Brief, lieber Oheim; er wird Ihnen Alles was Sie zu wissen wünschen, besser sagen als ich.«
»Du hast Recht,« erwiderte der Pfarrer, indem er den Brief, den er auf den Tisch gelegt hatte, wieder nahm. Mit lauter Stimme las er Folgendes:
»Mein lieber Valentin!
»Mein Sohn Jean hat sein einundzwanzigstes Jahr erreicht, und dies ist der Zeitpunkt, den ich erwartet habe, um ihn Dir vorzustellen. Ich rechnete auf ihn, um unsre Aussöhnung herbeizuführen, und ich wünschte, daß er in dem Alter war, wo man Alles sagen und Alles verstehen kann; er sollte die lebende Entschuldigung des Unrechts sein, dessen ich mich früher gegen unsren Vater schuldig gemacht habe. Er ist ein guter, braver Mensch, der etwas gelernt und mir stets Freude gemacht hat, und der, wie ich hoffe, auch indem lyoner Handlungshause, in das ich ihn sende, seinen Posten ausfüllen wird. Was mich betrifft, mein lieber Valentin, so hat mir Alles über mein Erwarten geglückt, und unsre Trennung allein hat einen Schatten von Betrübniß auf mein Leben geworfen. Indessen hoffte ich, daß ein Tag kommen werde, wo Du mir verzeihen würdest, und jetzt habe ich deshalb keinen Zweifel mehr. Jean wird mir unverzüglich das Resultat seines Besuchs melden und ich hoffe, ehe zwei bis drei Monate vergehen, Dich in meine Arme schließen und Dir selbst sagen zu können wie sehr ich Dich liebe.
»Dein Bruder
»Onesimus Raynal.«
»Dies ist Alles, was mein Vater geschrieben hat?« fragte Jean.
»Es ist Alles,« antwortete der Pfarrer, indem er ihm den Brief reichte.
»Dann bat er mir Vieles Ihnen zu sagen und Ihnen Vieles mir mitzutheilen überlassen.«
»So sprich« mein Sohn« sprich!«
»Zuerst« lieber Oheim, bitte ich Sie, mir den Grund Ihres Zerwürfnisses mit meinem Vater zu erzählen.«
»Gut, höre mich an, lieber Jean. Onesimus sagt mir, daß Du im Stande bist, Alles zu verstehen, ich werde Dir also nichts verschweigen. Vor zweiundzwanzig Jahren war unser Vater in Folge schlechter Geschäfte, die er gemacht hatte, ruiniert; aber es zeigte sich für Onesimus eine Gelegenheit, ihm wenn auch nicht zu dem verlorenen Vermögen wieder zu verhelfen, aber doch zu den Mitteln, um seine Umstände wieder zu verbessern. Diese Gelegenheit war die Verbindung mit einem Mädchen, die ihm ihr Vater mit einem Vermögen von zweimal hunderttausend Livres zur Frau geben wollte. Aber leider hatte sich Onesimus in ein andres Mädchen verliebt, und alle unsere Vorstellungen vermochten nicht, ihn von dieser Liebe abzubringen. Er wollte die Geliebte heirathen, obgleich sie nichts besaß und auch er arm war. Mein Vater verbot dem Bruder sein Haus und ich mußte schwören, daß ich ihn nie wiedersehen wollte. Ich leistete diesen Eid, obgleich der Stand, für den ich mich bestimmt hatte, es mir hätte verbieten sollen. Ich hatte Theologie studirt und ein Jahr nach der Verheirathung meines Bruders, die wir durch sein Nachsuchen und des Vaters Einwilligung erfuhren, wurde ich Priester. Mein Vater zog zu mir, lebte noch sechs Jahre und ging zu Gott, ohne seinem Sohne verziehen zu haben, so sehr ich mich auch bemühte, ihn dazu zu bewegen. Wohin sich Onesimus gewendet hatte, was aus ihm geworden war, habe ich nie erfahren, und während ich in meinem Herzen die Liebe bewahrte, die ich ihm als meinem Bruder schuldig bin, und ihm die Verzeihung angedeihen ließ, die ich für meine Christenpflicht hielt, bemühte ich mich vergebens, Erkundigung über ihn einzuziehen. Indessen verging kein Tag, ohne daß ich den Himmel bat, mir Aufklärung darüber zu geben und jedenfalls meinem Bruder das Glück zu gewähren, das ich ihm wünschte. Jetzt weiß ich, warum er schwieg und ich mache ihm nur deshalb einen Vorwurf, daß er so lange hat glauben können, ich zürnte ihm noch, und daß er es so lange verschoben hat, Dich zu mir zu senden. Dies ist Alles, was ich Dir mitzutheilen habe, lieber Jean, und ich erwarte nun, daß Du mir erzählst, wie es meinem Bruder in dieser langen Zeit ergangen ist und wie er sich jetzt befindet.«
»Mein Vater hat mir immer den Grund Ihrer Trennung verschwiegen,« entgegnete der junge Mann; »ohne Zweifel in der Furcht, daß sich dadurch wider meinen Willen die Achtung vermindern möchte, die ich meiner Mutter schuldig bin. Von Zeit zu Zeit jedoch erwähnte er eines Bruders, über den er, ich weiß nicht auf welchem Wege, Nachrichten einzog. Er sprach immer von diesem Bruder, nicht allein mit Liebe, sondern auch milder Hochachtung, die man einem edlen, frommen Manne schuldig ist. Ich erinnere mich, denn so etwas gräbt sich tief in das Gedächtniß der Kinder ein, daß ich und meine Mutter während meiner ersten Kinderjahre oft schlimme Zeit hatten. Mein Vater war oft auf Reisen; er war in einem Handlungshause angestellt und hatte einen sehr mäßigen Gehalt, so daß wir fast in steter Bedrängniß lebten, aber meine Mutter, eine gute, vortreffliche Frau, arbeitete Tag und Nacht und erzog mich mit einer solchen Sorgfalt, als man einem Prinzen widmet. Sie aß trocknes Brot, aber ich erhielt bessere Nahrung und wurde gut gekleidet. Sie und mein Vater liebten mich mit der größten Zärtlichkeit. Ich war ihr Trost, ihre Hoffnung und ihre moralische Stütze; ohne mich würden sie vielleicht der Last ihrer Leiden erlegen sein.«-
»Armer Bruder!« sagte der Pfarrer gerührt. »Fahre fort, lieber Jean, fahre fort, denn ich sehne mich danach, von Dir zu erfahren, wann Gott ihn für alle diese Prüfungen entschädigt hat.«
»Mein Vater betrug sich so gut, er gewann so sehr das Vertrauen des Hauses, für das er,reiste, daß er nicht allein nicht wie ein gewöhnlicher Commis behandelt wurde, sondern daß man ihm einen Antheil am Geschäft gab, so daß er nach einigen Jahren eine hübsche Summe zurückgelegt hatte. Sein Prinzipal gab ihm hierauf den Rath, sich in der Provinz zu etabliren, fügte als Darlehn eine Summe von zehntausend Franken hinzu und wir zogen nach einer kleinen Stadt, wo mein Vater ein Geschäft anfing und dabei fortwährend mit dem Hause in Verbindung blieb, dem er Alles zu verdanken hatte. Der Himmel war uns günstig, das Geschäft hatte einen guten Fortgang und mein Vater erwarb ein kleines Vermögen. Ich kam auf die Schule, wo ich einen guten Unterricht genoß, der mich fähig machen sollte, in jedem Stande fortzukommen, den ich wählen würdet aber ich hatte von jeher den Gedanken, daß ich den Stand wählen müsse, dem mein Vater das zu verdanken hatte, was er war, und ich wünschte in die Dienste des Hauses zu treten, das meinen Vater unterstützt hatte. Ich bin also gegenwärtig Reisender bei Herrn Roussel und Compagnie, und als ich vor vierzehn Tagen eine Reise antreten wollte, schrieb mir mein Vater, das Erste was ich zu thun hätte, nachdem ich die Geschichte, mit dem Lyoner Handlungshause, mit dem wir in Verbindung stehen, abgemacht hätte, müsse sein, mich im Dorfe Lafou, in der Nähe von Nimes, nach dem Pfarrer Raynal zu erkundigen, ihm den Brief, den er mir überschickte und dessen Inhalt mir unbekannt war, zu übergeben, ihn dreist meinen Oheim zu nennen und ihm Alles mitzutheilen, was ich Ihnen erzählt habe.«
»Du siehst mein Sohn, der Himmel verläßt keines seiner Geschöpfe ganz, und Fleiß und gutes Betragen erhalten früher oder später ihren Lohn. Toinette, bringe das Parterrezimmer unter dem meinigen in Ordnung, denn Jean wird ohne Zweifel einige Tage bei uns bleiben und er soll in diesem Zimmer wohnen. Dann besorge uns auch eine gute Flasche Wein und Zwieback.«
Toinette verließ das Zimmer.
»Ich danke Ihnen, lieber Oheim,« sagte Jean, »aber ich muß Sie schon morgen früh oder eigentlich schon in dieser Nacht wieder verlassen, denn ich muß bei guter Zeit wieder in Nimes sein, wo ich noch eint Zahlung in Empfang zu nehmen habe, ehe ich nach Montpellier abreise. Ich bin von Nimes zu Fuße hierher gekommen und werde wohl auch den Rückweg zu Fuße machen müssen. Es ist aber ein starker Marsch.«
»Nein, Du sollst reiten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich habe ein Pferdchen, auf dem ich meine kleinen