Ricarda Huch: Im alten Reich – Lebensbilder Deutscher Städte – Teil 2 - Band 181 in der gelben Buchreihe bei Ruszkowski. Ricarda Huch
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Foto: Wladyslaw
Der Turm der Johanniskirche, die den Sand beschirmt und beherrscht, erinnert an jene hohen Wachholder draußen, die seit unvordenklichen Zeiten mit dem Sturm kämpfen.
Ihr Gewölbe, das hochgereckte Backsteinpfeiler tragen, füllt eine ruhmwürdige, durch ein barockes Gehäuse verkleidete Orgel, an der ein Lehrer Bachs, Georg Hahn, Organist war, mit gewitterndem Wohllaut. Am Sande, einer großartigen Anlage, halb Straße, halb Platz, stehen eins ans andere gereiht, prächtige Giebelhäuser, die der flutenden Zeit getrotzt haben, mit ausgedehnten Hintergebäuden und Stallungen; denn dort war, als der Speditionshandel blühte, der Sitz der Herbergierer.
Am Sande – Foto: Michael J. Zirbes
Dort befindet sich auch die im Jahre 1614 gegründete, durch ihre Bibelausgaben berühmte Sternsche Buchdruckerei, von allen Buchdruckereien Deutschlands, die im Besitz derselben Familie geblieben sind, die älteste. An der Grenze des Johanniskirchhofs und des Sandes lag einst ein kleines Haus, wo man den zum Tode Verurteilten auf ihrem letzten Gange einen Labetrunk reichte. Unweit der Kirche steht, auserlesen im Schmuck verschieden geformter Fenster, das Kalandshaus, für eine vornehme, geistlich-weltliche Bruderschaft erbaut. Die Papenstraße, die an das verschollene Kloster Heiligental erinnert, führt zur alten Gottestreu Zum roten Hahn, einem malerischen Beieinander traulicher kleiner Häuser mit roten Ziegeldächern, die zur Aufnahme armer Leute gestiftet waren. Unter dem breitfüßigen Abtswasserkunstturm hindurch betritt man ein Zauberland: da steht dem Kaufhaus mit der vornehmen Barockfront und dem Zwiebeltürmchen gegenüber der im Jahr 1346 erbaute, vielfach restaurierte Kran, ein wunderlicher Alraun mit langer, grünpatinierter Nase, auf einer Seite von grauen Weiden umhangen, die tief in das vorüberfließende Wasser der Ilmenau tauchen. Dort am Wasser sind auch die Häuser, die das Geschlecht der Viskule bewohnte, welches Jahrhunderte hindurch die stolze Geschichte Lüneburgs leitete.
Den Mittelpunkt Lüneburgs bildet das Rathaus, ein Haus der Häuser, dem Bedürfnis der Zeiten gemäß entstanden.
Rathaus – Foto: Christian Fischer
Das 18. Jahrhundert entfernte die Spitzen der fünf schlanken gotischen Türme, die die Hauptfront gliedern, und ersetzte sie durch einen barocken Aufbau mit zierlicher Laterne. Der gediegenen Würde des 15. Jahrhunderts begegnen wir in der Gerichtslaube mit prächtig und sinnvoll bemalter Decke, mit schönen farbigen Glasfenstern und gotischen Wandschränken, in denen einst das Ratssilber verwahrt wurde: Pokale, Becher, Kannen und Schüsseln aus vergoldetem Silber, von Lüneburger Goldschmieden verfertigt und von patrizischen Familien gestiftet, ein Schatz von bedeutendem Wert, der nach einer Verordnung des Rates nicht veräußert werden durfte, wenn nicht höchste Not es erforderte. Im Dreißigjährigen Krieg trat dieser Fall ein, und es wurde ein Teil der Kostbarkeiten für 4.863 Taler verkauft. Den übriggebliebenen größeren Teil erwarb der preußische Staat im Jahr 1873 um 220.000 Taler für das Berliner Kunstgewerbemuseum. Die galvanoplastischen Nachbildungen, ein böser Ersatz, sind im Festsaal des Rathauses ausgestellt.
Dieser herrliche, um 1500 gebaute Riesensaal wäre einer mächtigen Reichsstadt würdig. Die Eingangstür, die an ein Scheunentor erinnert, ist nach innen mit einem großen doppelköpfigen Reichsadler bemalt, dessen Körper über und über mit den Wappen der Reichsstände bedeckt ist. An den Wänden befinden sich über der Täfelung die Bilder der lüneburgisch-welfischen Fürsten mit ihren Frauen, von der reichbemalten Balkendecke hängen Geweihleuchter mit holzgeschnitzten Heiligenfiguren herab. Aus dem 16. Jahrhundert stammt die große Ratsstube, die ganz und gar geschmückt ist durch wundervolle Holzschnitzereien des Meisters Albert von Soest. Sämtliche Räume des Rathauses verkörpern den großen Sinn und das sichere Selbstgefühl einer rühmlich regierenden Aristokratie und gleichwohl treuherzige Gemütlichkeit.
Den zum Teil erneuerten Brunnen vor dem Rathaus krönt eine kleine Bronzefigur der Diana aus dem 16. Jahrhundert; sie ist als Mondgöttin mit der Mondsichel dargestellt, daran erinnernd, dass der Name Lüneburg in früherer Zeit als Burg des Mondes gedeutet wurde, und dass man annahm, auf dem Kalkberge sei einst die Luna verehrt worden.
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