Die Nähe der Nornen. Kerstin Hornung

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Die Nähe der Nornen - Kerstin Hornung Der geheime Schlüssel

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in Sicherheit, denn sein Leben war in Gefahr.

      Die Nachricht, die sein ganzes Leben ins Wanken bringt, trifft Philip völlig unvorbereitet: Er selbst ist der, den er die ganze Zeit gesucht hat.

      Er ist der letzte und einzige Nachfahre der Kronthaler Könige.

      Prolog

      Als sich das Dunkel auf Josephine herabsenkte, brachte es Vergessen mit sich.

      Klebrig wie Honig glitten ihre Gedanken ohne Sinn und Ziel, doch sobald sie an etwas rührten und sie einen Hauch von etwas Bekanntem zu spüren glaubte, perlten sie wie Quecksilber ab und nahmen ihren zähen Fluss wieder auf.

      Zeit war ein Begriff.

      Raum war ein Gefühl.

      Schatten eine Tatsache.

      Licht gab es nicht. Zumindest nicht, solange sie auf dem zähen Fluss ihrer Gedanken trieb. Nur manchmal senkten sich die Träume der Nacht auf das Dunkel und unterbrachen das stete Nichtsein. Manchmal endete die Nacht durch ein Erwachen, aber es war nur ein Hinübergleiten und stecken bleiben. Die Nacht jedoch war klar. Die Nacht war frei. Die Nacht war gut. Die Nacht brachte Leben. Die Nacht brachte Wahrheit. In der Nacht gab es nur das Vergessen der Nacht.

      Und Träume …

      1. Der Fluch der Wahrheit

      Philip hatte die Wahrheit wissen wollen, doch nun traf sie ihn wie ein Keulenschlag aus dem Dunkel. Das war eindeutig zu viel Wahrheit für nur eine einzige Nacht. An die Tatsache, dass ein Elbe zu seinen Vorfahren gehörte, hatte er sich schon beinahe gewöhnt, aber dass die Menschen, bei denen er aufgewachsen war, denen er vertraute und die er liebte, nicht seine Eltern waren, konnte er noch nicht begreifen.

      Alles, was ihm in seinem Leben Halt und Sicherheit gegeben hatte, war mit einem Schlag zerbrochen. Sein ganzes Leben baute auf einer Lüge. Ausgedacht von ein paar Menschen, die es für richtig hielten, es nach ihrem Willen umzukrempeln und ihm nichts davon zu sagen. Er war wütend und er war traurig. Wütend, weil er sich hilflos fühlte, traurig, weil er alles verloren hatte. All die Wochen und Monate, in denen er allein und fern seiner Heimat umhergeirrt war, hatte er sich gewünscht, dass alles wieder so wurde wie Früher. Aber nun konnte nichts mehr so werden.

      Die große Familie, in der er aufgewachsen war, war nicht seine. Er hatte keine Eltern und keine Geschwister. Er war allein. Ganz allein.

      Blind starrte er auf den Schlüssel in seiner Hand. Dass er der Erbe der alten Könige sein sollte, hatte er noch nicht begriffen. Es gab nur den Namen seines Vaters, eines Mannes, den er nicht kannte und von dem er nichts wusste, außer, dass er tot war. Tot wie seine Mutter – und er war alleine.

      Es gab nur noch Philip – und noch nicht einmal das. Sein Name war Philmor, und Philmor war ein ganzes Jahr älter als Philip.

      Was blieb jetzt noch von ihm übrig? Früher hatte er manchmal Kraft daraus geschöpft, zu wissen, wer er war und wo er herkam. Doch jetzt gab es das alles nicht mehr. Plötzlich hatte er keine Vergangenheit mehr … und keine Zukunft.

      Dekan Resilius verneigte sich vor ihm und sagte »mein König«, aber Philip konnte damit nichts anfangen. Er ließ den Schlüssel fallen, sprang auf und rannte davon. Die Lichtung hielt ihn gefangen. Dunkler, verfilzter Wald, der nirgendwo hinführte, und der nahe Abgrund waren seine Wächter. Vor dem abfallenden Hang blieb Philip stehen und sah in die Ferne.

      Ein silberner Streifen zeichnete sich am Horizont ab. Nach und nach wuchs eine milchige Sonne aus dem Boden.

      Unverwandt sah er ihr zu, wie sie Zoll um Zoll höher stieg und runder wurde.

      »Deine Urgroßmutter, meine Tochter Helena, stand morgens oft auf einer Anhöhe und sah der Sonne beim Aufgehen zu. Sie sagte, dass sie in dieser stillen Morgenstunde ihren Liebsten, und damit meinte sie dich und Josephine, am nächsten wäre.«

      Philip drehte sich zu Frendan’no – dem Elben, der sein Ururgroßvater war – um. In seinem Gesicht stand eine hilflose Frage, die seine Lippen nicht erreichte.

      »Ich wusste bis vor Kurzem nichts von der Bestimmung deines Vaters«, erklärte der Elbe. »Alles, was ich über ihn wissen wollte, sah ich in seinen freundlichen grünen Augen und in der Liebe, die er deiner Mutter und dir entgegenbrachte.«

      Bei dem Wort Mutter zuckte Philip zusammen. Seine Mutter war Josephine. Sie hatte seine Tränen getrocknet und seine Wunden versorgt. Sie hatte an seinem Bett gesessen, und unter ihre Decke war er geschlüpft, wenn ihn wilde Träume aus dem Schlaf rissen. Sie hatte ihn angelogen.

      »Ich verstehe deine Trauer und ich spüre deinen Schmerz. Du glaubst, alles verloren zu haben, aber so ist es nicht. Josephine hat dich vergöttert und sie tut es heute noch. Ich war zufrieden damit, dass sie dich zu sich nahm. Es war richtig so. In meinem Herzen haben Felicitas und Josephine immer den gleichen Stellenwert gehabt. Zürne ihr nicht. Sie hätte es dir bestimmt selbst gesagt, doch die Zeit ist ihr dazwischengekommen. Phine erfuhr auch erst am Tag ihrer Verlobung von meiner Existenz.« Frendan’no machte eine kurze Pause. »Ein Geheimnis zu bewahren, ist eine Last, doch irgendwann gewöhnt man sich daran und es wird schwer, den Moment zu finden, an dem es Zeit ist, es zu lüften. Ich bin mir sicher, dass sie dich schützen wollte, indem sie dir die Last dieses Geheimnisses ersparte. Du wurdest ihr Kind, möglicherweise hatte sie Angst davor, dich zu verlieren.«

      Frendan’nos Worte vermochten Philips Schmerz nicht zu lindern, sie zügelten nur seine Wut. Die Trauer blieb. Bei seiner Mutter … bei Phine, verbesserte er sich, konnte er sich zumindest noch einreden, dass sie eine nahe Verwandte war, aber wer war Feodor? Wer war der stille Mann mit den großen, rauen Händen? Wer war der Mann, der ihn im wilden Galopp über die Streuobstwiese getragen hatte, so wie er es heute noch manchmal mit den Zwillingen machte? Er war doch sein Vater! Und doch war er es nicht. Was hatte Feodor gesagt, als er Philip das Kettenhemd überreichte? Philip grübelte, aber die Worte wollten ihm nicht einfallen. Es war das letzte Mal, dass er seinen Vater gesehen hatte, aber die Worte fielen ihm nicht ein.

      Verzweifelt sah er sich nach allen Seiten um, als ob er sie noch irgendwo finden könnte. Der Kloß in seinem Hals wurde immer dicker. Fast hatte er das Gefühl, er müsste daran ersticken.

      Wie durch einen Schleier sah er die Gestalten bei den Zelten. Olaf, der sich gähnend am Hinterkopf kratzte und dann erstaunt vor dem Eingang des Zeltes stehen blieb, als er merkte, dass sich über Nacht einiges draußen verändert hatte. Leron’das, der sich mit Dekan Resilius unterhielt, zwei weitere Elben, die aus einem der Zelte kamen und aus der Glut wieder ein kleines Feuer entfachten.

      Die Sonne stieg höher und löste sich aus dem Dunst. Ihre Strahlen streiften die Hügel und Täler, brachten Bäche zum Glitzern und Wiesen zum Leuchten.

      Philip hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, keinen Halt mehr in dieser Welt. Er sah nicht die Hand, die Frendan’no ihm reichte und auch nicht die ratlosen Gesichter der anderen, als er an ihnen vorbei in das Zelt stürmte und sich die Decke über den Kopf zog.

      »Hör zu! Langsam wird mir das ganze Theater hier unheimlich.« Olaf saß auf den Boden und sah Philip an. Dieser lag seit fast zwei Tagen nur teilnahmslos auf dem Rücken und starrte den weißen, spinnwebfeinen Vorhang über seinem Bett an, als ob er all die Weisheit dieser Welt in ihm zu finden glaubte.

      »Du liegst da und sagst kein Wort. Die Schönen

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