Stadtflucht. Stephan Anderson
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Sukzessive füllte sich das Bushaltestellenhäuschen und aus dem geruhsamen Sitzplatz wurde für den einzelgängerischen Aaron ein unangenehmes Eckplatzgefängnis, welches ihn, durch leicht klaustrophobische Schübe bedingt, dazu veranlasste aufzuspringen und die Menschentraube in Richtung peitschendem Nieselregen zu verlassen. Vielleicht auch begründet durch sein Aufwachsen als Einzelkind vom Land, hasste er Menschenansammlungen und fühlte sich schnell unfrei, wenn ihm jemand zu nahe kam. Sitzplätze in öffentlichen Verkehrsmitteln waren da zumindest der Kompromiss, nicht mit einem Fremden Gesicht an Gesicht stehen zu müssen. Dazu hatte er sich ein eigenes System zurechtgelegt, um immer als erster in Bus, U- oder Straßenbahnen einsteigen und sich einen Sitzplatz zu ergattern.
Über Wochen und Monate hatte der Bakterien-Phobiker genau beobachtet, wo jedes Verkehrsmittel, in welcher Station, genau haltmachte. Anhand seiner Empirie wusste er nun genau, dass der hintere Einstieg dieses Busses, in dieser Station, immer sieben Schritte von einem bestimmten Verkehrsschild entfernt war. Während sich seine Mitreisenden nun aus der, nur teilweise schützenden Haltestelle, Richtung einfahrendem Bus bewegten, hatte Aaron schon seine sieben Schritte absolviert und wartete, bis sich die hintere Türe des Personentransportwagens vor seiner Nase öffnete. Gesagt getan, stieg er ein und sicherte sich seinen Fenstersitzplatz, weit abseits der drängenden Menge in der Mitte des öffentlichen Verkehrsmittels. Gleiches Spiel zwei Stationen weiter und genau zehn Schritten von einem Müllkübel aus, gegen die Fahrtrichtung, auf dem U-Bahnsteig. Mit seiner Morgenzeitung in der Hand trat er als Erster die Sitzplatzmusterung an und versuchte sich zugleich mit dieser abzulenken, als sich ein Grummeln in seinem Magen einstellte.
„Morgenwäsche, Morgenzeitung, aber keine Morgentoilette“, ärgerte sich der notorische Spätaufsteher, als das Gluckern in leichte Bauchkrämpfe überging. Das Natürlichste, aber gesellschaftlich gesehen, verruchteste Geschäft des Tages rief, nein schrie unüberbrückbar nach seiner Erledigung.
Die wöchentlichen Versuche seiner Freundin seine Ernährungsgewohnheiten zu ändern, schmetterte er immer wieder unverhohlen mit dem Argument, dass er einen unverwüstlichen Magen sein Eigen nannte, ab. Selbst als sie ihm zu einer Lebensmittelunverträglichkeitsprüfung überreden konnte und die Ergebnisse klar aufzeigten, dass Käse und rotes Fleisch, zumindest für eine Zeit lang, von seinem Speiseplan zu verdammen wären, hielt er sich nicht daran.
„Was bleibt mir sonst noch im Leben außer genüsslich Schlemmen?“, warf er der besorgten Partnerin stets entgegen. Obwohl der selbsternannte Gourmand mittlerweile einen beträchtlichen Bauchumfang aufwies, welcher aber noch im Rahmen der allgegenwärtigen mittelständischen Wohlstandsleibung war, wollte er partout nichts an seinen abendlichen Fast-Food-Ausschweifungen und Heurigenplatten-Auftischereien ändern. Nein, es war vielmehr eine Belohnung für ihn. Die Beute eines anstrengenden Tages mit nach Hause zu bringen und in den eigenen vier Wänden zu verzehren. Seiner schlechten Ernährung bewusst, geizte er, in der einen oder anderen alkoholgetränkten Zechrunde, auch nicht mit Kritik an jenem Gesundheitssystem, das ihn genauso besteuerte, wie gesunde Topsportler.
„Warum muss der Ungesunde nicht mehr zahlen? Ich würde es sofort!“, behauptete der beschwörende Systemkritiker des Öfteren, mit einer seltenen Zigarette im Mundwinkel und einem Bier an den Lippen.
Nachdem weder das Wohlstandsbäuchlein, noch die immer tiefer ins kurze Haupthaar ragenden Geheimratsecken seine Freundin störten, änderte der fettige Feinschmecker auch an seiner Lebensweise nichts.
Wieder fünf Stationen mit der U-Bahn geschafft. Raus aus dem Waggon, die Rolltreppe auf der linken Seite nutzend, um die Rechtsstehenden zu überholen, eilte er, mit seinem schlingernden, blau-weißen Rucksack geschultert, zur Straßenbahnplattform herab. Die körperliche Anstrengung multiplizierte das unangenehme Gefühl des aufstauenden Druckes nur noch. Der Hetzende musste einsehen, dass man dem Stuhlgang nicht davonlaufen konnte. Sein schlimmster Feind, war ihm bekanntlich am nächsten. Ein infiltrierter Quälgeist. Ein individuell-epidemisches Darm-Damoklesschwert, das über seinem schütteren Haar hing.
Nun war auch der Sitzplatz in der einfahrenden Straßenbahn nicht mehr das Wichtigste auf der Welt. Schnaufend stürmte er zur einfahrenden Tram und quetschte sich, entgegen dem aussteigenden Fahrgaststrom, in den ersten Waggon, den er von den Rolltreppen aus, erreichte. Zumindest hatte er Glück und das Verpassen des Busses, gut zwanzig Minuten zuvor, hatte, wenigstens an diesem Tag, keine weitere Wartezeit als Konsequenz. Die tiefsitzenden Ärgernisse über die Menschenmassen, das feuchtkalte Wetter, der Gestank der Großstadt nach Abgasen, die im Sommer unerträglich wurden, all das rückte in den Hintergrund, wenn er seine einfachsten menschlichen Bedürfnisse nicht befriedigen konnte.
Fest der Einstellung, dass ihm das Schicksal stets das ein oder andere Fünkchen Glück zuwarf und ihm in der nächsten Sequenz seines verbitterten Lebens wieder nahm, musste er schnell feststellen, dass kein Sitzplatz mehr frei war. Nur im ganz hinteren Waggon, wo er üblicherweise einstieg, freute sich nun ein hinkender Fahrgast, seine geschundenen Beine zu entlasten. Indessen er den Innenraum der Straßenbahn musterte, um nicht vielleicht doch noch sitzend an sein Ziel zu gelangen, drängten immer mehr Fahrgäste in den unglückseligen mittleren Waggon, indem an jeder Haltestelle schier die ganze Welt ein- und aus stieg. Gewiss war sein Schicksal besiegelt. Sein Standplatz für die nächsten vier Stationen war eingequetscht zwischen einer von Kondensat triefende Scheibe, linkerhand einem Rudel Jugendlicher, welche sich lautstark unterhielten, um die aus ihren Smartphones erschallende Musik zu übertönen und rechterhand von zwei Männern in dreckigen violetten Overalls, jeweils mit einem qualitätsfremden Bier in der Hand bewaffnet. Zwischen ihm und der Doppelschwenktüre in die Freiheit waren weitere zwanzig Menschen, dicht an dicht gedrängt.
Wieder einmal musste er einen Kampf mit seinem Magen, bei unpassendster Gelegenheit ausfechten, wieder einmal musste er, schwitzend und bedrängt, seinem Arbeitsplatz entgegenfahren, wo er, endlich Heilung erfahren sollte. Wenigstens lenkten ihn die Gespräche der jugendlichen Musik-Übertüncher so ab, dass er seine pressenden Unterleibsschmerzen für zwei Stationen vergaß. Dem Darmdruck wich reine Aggressivität, denn der, ohne ausreichende Verwendung von Adverbien und mit nur mäßigem Gebrauch von Artikeln behafteten, jugendlichen Konversation lauschend, fühlte er sich wie ein Giftstachel in seinem unnachsichtigen Mantra an.
Vernunft und reflektierendes Verhalten. Das predigte Aaron immer wieder. Trage ich mit meinem Verhalten etwas zu einer besseren Allgemeinheit bei oder nicht? Schränke ich andere mit meinem Verhalten in ihrem persönlichen Freiraum und Wohlbefinden ein oder nicht? „Alles ärgerliche Menschen!“, monierte der eigenbrötlerische Freizeitphilosoph leise, wieder in seinem Verdauungsschmerz zurückkehrend.
Aus dem Stehgreif hätte Aaron mindestens dreißig Punkte aufzählen können, die er an den Jugendlichen als abstoßend und verwerflich empfand. Alleine das Tragen von Jogginghose im öffentlichen Raum und die Undercut-Frisuren reichten für ein vernichtendes Urteil. Empathie, Ignoranz, Verunglimpfung der eigenen Muttersprache. Nichts würden diese Halbstarken zu einer dynamischen Zivilgesellschaft beitragen. Nicht einmal mit dem Begriff etwas anfangen. Arbeitslosigkeit, Schmarotzertum und Kriminalität. Schnell hätte Aaron sich seine Welt wieder zusammengedichtet. Aber dafür war jetzt keine Zeit.
Zu seinem Glück hatte er schon zwei Stationen geschafft und die eingezwängte Menschenansammlung lichtete sich im stets hochfrequentierten mittleren Waggon.
Doch wie das Schicksal, aus der egozentrischen Egomanen-Sicht, oft mit ihm spielte, stand er nun vor seinem nächsten Problem. Die gewonnene Bewegungsfreiheit brachte mit sich, dass er sich unweigerlich an einer der Stangen und Bügel im Straßenbahninneren anhalten musste.
Der kleinst-anzunehmende Vorteil von dicht an dicht gequetschten Mitreisenden war