Stadtflucht. Stephan Anderson

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Stadtflucht - Stephan Anderson

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Montur zu reichen. Während er sich hüftsteif in den weißen Overall quälte und nur mit Mühe und Not, in Ermangelung eines trainierten Gleichgewichtssinns, seine schnürsenkellosen Lederslipper, die das gleiche Baujahr wie sein Auto zu haben schienen, mit dem Schuhschoner überstreifte, steckte er sich eine Zigarette in den Mundwinkel. Profihaft genoss er, ohne Einsatz seiner Finger, die derweil mit dem Überstreifen von schwarzen Plastikhandschuhen beschäftigt waren, die ersten Züge seines Glimmstängels. Mit aufgeladenen Nikotintanks machte er sich nun auf den Weg Richtung Eingangstüre des Tatorts, welche, entgegen dem Eintreffen Aarons vor gut fünf Stunden, nicht mehr leicht, sondern sperrangelweit offenstand.

      So, wie bei der massiven Haupteingangstüre ins Vestibül des Zinshauses, waren auch bei dieser keine Spuren eines gewalttätigen Fremdeindringens zu erkennen. Beide Schlösser und Beschläge waren von zylinderschlitzsuchenden Schlüsseln zerkratzt, aber nicht beschädigt. Gleich einen Meter nach der Türschwelle offenbarte sich dem, von solchen Anblicken bereits abgestumpften großstädtischen Kommissar, ein grässliches Bild.

      Kleine leuchtgelbe Hinweistafeln mit schwarzer Nummerierung von eins bis sechs waren im gut fünf Meter langen und drei Meter breiten Flur verteilt. Inmitten der akribischen Beschilderung lag ein fünfundvierzig- bis fünfzigjähriger, molliger Mann, in einer riesigen Blutlache. Weder seine Augen noch seine Gesichtszüge oder die Farbe seines schütteren Haares waren zu erkennen, war doch eine Pistolenkugel, vermutlich aus kurzer Distanz, in seinen Nasenansatz ein- und am Hinterkopf wieder ausgetreten, was zu einer grauenhaften Entstellung seines Minenspiels führte und den alten Holzboden und die weißen Wände neben ihm mit kleinen Teilen seines Gehirns sowie seiner Haut bespritzte. An den Hautteilen waren noch teilweise die Haare zu sehen. Eingebettet in das schauerliche Bild von Blutspritzern und umherliegenden Gewebefetzen, waren schlecht erkennbare Sohlenabdrücke am Holzboden. Seine Brille lag genau am Steg zerteilt links und rechts neben ihm. Sein weitgeöffnetes, hellbeiges Hemd war in ein dunkles Rot gefärbt, als hätte man seinen Oberkörper in ein Fass voll Blut getunkt.

      Der erfahrene Kommissar beugte sich über die Leiche, ließ seinen Blick auf die früher weißen Flurwände streifen und musterte genau die Verteilung und Intensität der darauf verteilten roten Sprenkel. Es roch wie in einer Schlachthalle, welche gerade desinfiziert und ausgeräuchert wurde. Der abgestandenen Kupferausdünstungen des Todes. Als würde man eine Fleischerei betreten und kein Büro. Intuitiv gewann seine vollste Aufmerksamkeit aber schnell die Suche nach dem Einschussloch, des am Hinterkopf des Opfers ausgetreten Projektils.

      „Wer hat hier von euch das Sagen?“, rief der aufgekratzte Ulman den Ruß pinselnden Spurensuchern in das Stiegenhaus entgegen. Bevor die nicht zu reagieren scheinenden, vertieft in ihrer Arbeit steckenden Kollegen, ihm antworten konnten, hallte eine Stimme vom anderen Ende des langen, über zwei Meter siebzig hohen Altbauganges der zu Büroräumen umfunktionierten Luxus-Wohnung: „Hier, ich Herr Kommissar!“

      Es war der weitbekannte Chef der hauptstädtischen Spurensicherung Dr. Peter Weiß, der es sich nicht nehmen ließ diesen Tatort, in seinem Wohndistrikt, selbst zu sichern. Zu Ulmans Glück ein Mann der seine Sprache und seine Art der Ermittlung respektierte und dem auch seine privaten Lebensgewohnheiten keine Sorge bereiteten, konnte die Reputation des langjährigen Mordermittlers doch von seinen investigativen Erfolgen der Vergangenheit, bis zu seiner baldigen Pensionierung leicht zehren. Daher war es dem am Boden knienden Mittsechziger auch eine willkommene Abwechslung einen alten Großstadtfuchs, wie er es war, freundlich entgegenzutreten. Der oberste Spurensicherer der Kapitale war es gewohnt, mit vielen unterschiedlichen Charakteren bei den jeweiligen ermittelnden Abteilungen zusammenzuarbeiten und in Ulmans Fall war die Sachlage einer fruchtbaren Zusammenarbeit klar, wenig fragen und dem Hauptermittler vertrauensvoll mit forensischen Fakten zuarbeiten.

      „Herr Doktor Weiss. König aller Klassen. Ich knie vor Ihnen und bitte um die Antwort wo das ausgetretene Projektil eingeschlagen ist?“

      „Auch Ihnen einen Guten Tag Kommissar Ulman. Dem Einschlag in der hinteren Wand des Raumes nach zu urteilen, da wo ich gerade stehe. Die Patronenhülse ist nicht auffindbar und das Projektil wurde aus der Wand entfernt.“

      „Also nach dem Austritt muss das Projektil noch gut sechs bis sieben Meter geflogen sein um dort einzuschlagen. Ich tippe auf eine 9mm Pistole. Wie groß ist das Opfer?“

      Dr. Weiss ging dem grübelnden Kommissar entgegen um ihm genau mitteilen zu können: „Ein Meter und dreiundachtzig Zentimeter.“

      „Und das Projektil ist glatt ausgetreten. Das heißt der Schütze war circa einen Meter fünfundsiebzig bis einen Meter achtzig groß. Die Einschusskerbe ist leicht links von hieraus gesehen, das heißt er ist Rechtshänder.“

      „Sehr gut gesehen, deshalb sind Sie der beste, Ulman. Und er hatte, den blutigen Sohlenabdrücken nach zu urteilen, Schuhgröße sechsundvierzig oder achtundvierzig.“

      „Die Schnittverletzungen wurden nach seinem Tod verübt?“

      „Ja, ´post mortem´.“

      „Bitte Weiss, sprechen Sie in einer Sprache, die ich verstehe! Also der Täter läutet hier an, schießt dem Mann in den Kopf, schneidet seine Kleidung auseinander und wendet ihn. Nur, um Gewebeteile aus ihm herauszuschneiden?“

      „Sieht so aus.“

      „Weiss, alles deutet auf einen Trophäenjäger hin, der das Opfer gekannt hat und die Gegebenheiten vor Ort ebenfalls.“

      „Kommen Sie mit, Herr Kommissar, ich zeige Ihnen die anderen Opfer.“

      „Andere?“, war der alternde Ermittler erstaunt aber nicht betrübt.

      „Ja, es gibt noch zwei weitere Leichen.“

      „Scheiße. Aber die Schuhgröße kann nicht ganz zu der Körpergröße des Schützen passen“, stellte der spitzfindige Mittsechziger fest, während er über gelbe Hütchen und rote Sohlenabdrücke, immer mit Bedacht keine Spuren zu verwischen, stieg, „sind nur Ihre Leute hier oder auch schon jemand vom Morddezernat?“

      „Bis jetzt nur Sie und auch reichlich spät, wenn ich das so sagen darf. Wir sind schon seit drei Stunden hier und mit allem schon fertig. Die Leichen werden nach unserem Rundgang gleich abgeholt.“

      „Nein, dürfen Sie nicht so sagen. Der Verkehr ist eben schlimm. So ist unsere Großstadt nun mal. Sein Sie froh, dass Sie hier und nicht in einem Kuhkaff leben, wo die Leichen schon von Wölfen angeknabbert wären.“

      „Mein Fehler“, entgegnete Weiss beschwichtigend und, zumindest nach außen hin, einsichtig.

      „Du“, pöbelte Ulman einen in der Nähe, der Eingangstüre befindlichen Spurensucher an, „geh so schnell als möglich hinunter und hole jemanden vom Morddezernat. Ich werde ja nicht der Einzige hier sein.“ Der über den harschen Ton Verwunderte sah Weiss verstört und fragend an und wartete auf eine Reaktion seines Vorgesetzten. Als dieser wohlwollend nickte, machte er sich unverzüglich die Stiegen abwärts auf, durch das noch die Verabschiedung des cholerischen Kommissars hallte: „Gib Stoff Pinguin, sonst kommst du zurück in den Zoo!“

      Nachdem er bereits unzählige Fälle und Ermittlungen gemeinsam mit seinem charakterfordernden Kollegen abgehandelt hatte, wusste Dr. Peter Weiss nur zu gut, wie man am besten dessen cholerische Ausbrüche wieder einfing und scherzte: „Bitte lassen Sie meine Daktyloskopen in Frieden. Darf ich Ihnen nun meine Einschätzung und den Rest des Sachverhaltes erklären?“

      „Dakti? Was? Sprechen Sie mit mir nicht in diesem Studiertenton! Ich sage nur das Nötigste, das wissen Sie. Ich bin ganz Ohr“, erwiderte ein neugieriger, aber keinesfalls, ob seines rauen Umgangs mit Kollegen peinlich berührter

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