Stadtflucht. Stephan Anderson
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In der Tat fand Weiss die richtige Wortwahl, war der in weiße Schutzkleidung gehüllte Ermittler nun sogar zu einem seiner seltenen Scherze aufgelegt und fragte seinem Wegweiser ob hinter eine der vier weiterführenden Türen ein Tiger lauern würde?
Hinter der ersten Türe führte ein kleines Zwischenzimmer, parallel zum Eingangsflur verlaufend, zu einem kleinen Konferenzsaal und von diesem weiter in eine beschauliche Küche. Schon im Zwischenzimmer überfiel ihn ein Anblick, als ob tatsächlich ein Tiger gewütet und seine menschliche Beute dort tot zurückgelassen hatte. Ähnlich dem ersten Tatbild lag auch hier ein Mann, mit nur einem Schuss niedergestreckt, in einer riesigen, verschmierten Blutlache. Links und rechts der Leiche waren die raumhohen Aktenordnerregale mit Hautfetzen, Haar- und Gehirnteile sowie Blutspritzern übersät, welche das Projektil über die Austrittswunde am Hinterkopf mit sich riss und im ganzen Raum verteilte. Ein Auge des Mannes war offen, das andere geschlossen, was darauf schließen ließ, dass der Tod plötzlich und unvorhergesehen eintrat. Anders als bei der ersten Leiche war diese bis auf die Unterwäsche entblößt und wies, sofort ersichtlich, tiefe kleine Schnittwunden von den Beinen bis ins Gesicht auf, als hätten ihn Miniaturpiranhas angeknabbert. Seine Kleidung wurde ihm vom Leib geschnitten. Patronenhülsen waren auch hier nicht zu finden, was die Anzahl der leuchtgelben Markierungsschilder, für forensisch relevante Hinweise, ohnehin nicht reduziert hätte. Das totbringende Projektil steckte auch hier in der Wand hinter dem Opfer, gleich neben dem einzigen Kastenfenster in diesem Raum und wurde ebenfalls nach dem Einschlag entfernt.
„Er ist für ihn überraschend getötet worden. Die Leute glauben ja immer, dass der Angeschossene, wie in Filmen, nach hinten fliegt, wenn er von vorne getroffen wird“, erläuterte Ulman die vorgefundene Szenerie.
„Das dritte newtonsche Gesetz. Es beinhaltet die Wechselwirkung zwischen Kraft und Gegenkraft“, ergänzte Weiss.
„Was?“, gab sich der alternde Ermittler verwundert und genervt, „die Opfer fallen einfach nach vorne oder direkt nach unten. Sie brechen zusammen. Das meinte ich.“
„Ich doch auch, Herr Kommissar.“
„Ihr Studierten seit alle gleich. Erfindet immer eine parallele Sprache, für alles. Dabei wissen einfache Typen wie ich das Gleiche. Aber so hochgestochen müssen wir nicht reden!“, streichelte sich Ulman über seinen Dreitagesbart und wies den Chefforensiker zurecht.
„Sieht fast nach Auftragsmord aus, aber ich bin kein Ermittler, nur ein Spurensucher und Analytiker“, antwortete Weiss mit einem dezenten Grinser auf seinem fein rasierten Gesicht, während er sich die Haube des Schutzoveralls von seiner Glatze zog und tief schnaufte.
Alle seine Humorpunkte für diesen Tag schon aufgebraucht, klatschte der genarrte Ermittler seine schwarzen Plastikhandschuhe zusammen und begann mit seinen treuen, rehbraunen Augen gedankenverloren aus dem einzigen Kastenfenster des kleinen Zwischenzimmers zu blicken, welches sich zwei Meter hinter der Leiche, Richtung Konferenzsaal, befand.
Der Regen prasselte auf die Scheiben und die Fensterbank und erwirkte für kurze Zeit eine hypnotische Wirkung auf den nikotinsüchtigen Alkoholiker, als ob sein Inneres ihn fragen wollte, was er eigentlich hier machte? Hatte er denn nicht schon genug solcher Tatorte und ausreichend schreckliche Bilder von verstümmelten Leichen gesehen? In welcher Kneipe und mit welchem Alkohol würde er diesen Tag von seiner Seele zu spülen versuchen? Erst der Analysebeginn von Weiss, brachte ihn wieder in die schauderhafte Realität zurück und diese hieß Professionalität im Dienst und die Stillung seines unbändigen Verlangens jeden, der in seiner Stadt Verbrechen beging zu schnappen und zu bestrafen.
„Es war die gleiche Waffe, 9 mm. Der Schütze stand noch im Wartezimmer, ungefähr drei Meter vom Opfer entfernt. Kopfschuss, sofort tot. Da das Opfer circa ein Meter neunzig groß und der Austrittswinkel des Projektils rechts neben dem Kastenfenster ist, kann man auf zwei Dinge schließen. Erstens der Täter war Rechtshänder, zweitens so groß wie von mit angenommen.“
„So weit war ich auch schon“, entgegnete der keifende Mittsechziger um fortzufahren, „und dann lässt er die Leiche von einem Mungo zerfleischen?“ Er war geistig wieder voll im Geschehen und würde er keinen harschen Ton anschlagen, keiner wüsste, ob Kommissar Sebastian Ulman mit seinen Gedanken nicht wo anders wäre.
„Nein, was Sie sehen sind Skalpellschnitte. Oder zumindest mit einem sehr feinen und scharfen Messer. Den Opfern wurden am ganzen Körper kleine epidermistiefe Gewebeteile entfernt. ´Post mortem´. Sehen Sie? Am ganzen Körper. Er wurde sogar dafür umgedreht und dann wieder gewendet, deshalb ist er voller Blut. So wie die Leiche im Flur. Was meinen Sie dazu?“
„Ein Trophäensammler wie gesagt. Der näht sich wohl gerade einen Mantel aus den erbeuteten Hautstücken“, entkam dem alternden Ermittler ein seltenes Grinsen.
„Das fehlende Gewebe ist zwischen Nullkomafünf bis zwei Zentimeter groß. Alle Beweismittel sind noch im Labor. Ich hoffe, dass wir schon einen ersten Überblicksbericht haben, wenn wir ins Dezernat kommen.“
„Beweismittel? Sehe ich nicht viele. Der Täter schießt das erste Mal im Stiegenhaus. Entweder er hatte einen Schalldämpfer oder er ist dumm. Der Wiederhall musste fürchterlich laut durch das ganze Haus gehallt haben. Aufmerksamkeit, das will keiner, der so etwas Aufwendiges vorhat“, stellte Ulman fest und strich sich mit den schwarzen Plastikhandschuhen wieder über seinen Dreitagesbart.
„Also der Täter war eine Person, die sich hier auskannte und auch die Opfer kannte?“
„Wie viele blutige Sohlenprofile haben Sie gefunden, Weiss?“
„Wohl nur eines. Aber das prüfen wir auch gerade im Labor.“
„Es spricht alles dafür, dass er etwas Persönliches als Trophäe mitnahm, da gibt es kaum etwas Persönlicheres als Haut. Sie entblößt das Opfer nach außen. Hätte er die Opfer aber aus boshafter Rache getötet, würden wir hier einen blinden ´Wutmord´ vorfinden.“
„Einen ´Overkill´, Ulman?“
„Ja, wie Sie das auch immer nennen wollen! Aber eines ist klar, die Tat war geplant.“ Der großstädtische Kommissar warf wiederum einen Blick zurück in den Eingangsflur, um die Route und Bewegungen des Täters nachempfinden zu können. „Der Täter hat sich unter Kontrolle. Er ist nicht der Schlauste, aber er hat sich unter Kontrolle. Sogar die Hülsen hat er mitgenommen. Die Projektile aus der Wand gerissen. Er kommt rein, bumm! Gleich weiter, bumm! Definitiv geplant oder haben Sie immer ein Skalpell und eine 9 mm bei sich Herr Doktor Weiss?“
„Ulman ich bin beeindruckt. Und warum hat er dem ersten Opfer nur elf kleine Gewebeteile herausgeschnitten, während er diesem hier gleich achtundzwanzig am ganzen Körper entfernte?“
„Hat er das?“
„Ja. Bei dem Opfer im Flur draußen zwei Zentimeter oberhalb der rechten Mamille, am Hals auf Höhe der Trachea und auf der hinteren linken Wade. Der Rest an Händen und Beinen.“
„Mamilla?“
„Brustwarze, guter Ulman.“