Stadtflucht. Stephan Anderson

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Stadtflucht - Stephan Anderson

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Sebastian Ulman nun zurückzuweisen, war für den glatzköpfigen Schnauzbartträger eine kleine Mutprobe. „Immer gerne, aber das ist von einem Tatort, das können wir nicht“, gab er sich diplomatisch, um die Situation wiederum emotional zu begradigen.

      „Aha. Sie sind in den Jahren auch zu einem feinen Herrn gereift. Ich bin ein Kind des Sozialbaus, das vergesse ich nicht. Wir bekommen das schöne Leben nur zentiliterweise“, merkte der enttäuschte Kommissar gereizt an und schluckte beide, mit vier Zentiliter gefüllten Gläser, so hastig hinunter, dass sein Kaugummi gleich mitweggespült wurde. Dahinauf reinigte er beide Gläser in der Abwasche, ließ sie dort stehen und stellte die Flasche Cognac in den Kühlschrank zurück. Als Weiss, noch vollkommen perplex und wie angewurzelt in der Küche stand, begab sich der hochprozentig Gestärkte schon zurück in den kleinen Konferenzsaal, um sich erneut einen Kaugummi aus seiner Jackentasche zu holen: „Kommen Sie, ich dachte es gibt drei Leichen?“

      Beschämt, vom gerade Gesehenen, führte der oberste Spurensucher den cholerischen Kommissar, über das immer mehr in den Ritzen des Parkettbodens verschwindende Blutmeer im Zwischenraum und weiter in den Warteraum.

      „Was ist hinter den restlichen drei Türen?“, erkundigte sich der, nun zur reinen, professionellen Distanziertheit abgebogene Mittsechziger, unterdessen, spielerisch, seine schwarzen Plastikhandschuhe zusammenklatschte. Der Spurensicherer zeigte auf eine weiße Türe, gegenüber dem Zwischenzimmer und erläuterte seinem nun leisen Zuhörer, dass sich dahinter ein nicht tatrelevanter Raum voller Aktenordner-Regale befand.

      „Hinter dieser Tür ist ein Einzelbüro und hinter der vierten ein Großraumbüro. Dort ist auch die dritte Leiche gefunden worden.“

      Auf einer Fläche von acht Meter Länge und fünf Meter Breite standen drei Schreibtische, der Fensterreihe entlang, aufgefädelt. Ganz am Ende des Raumes, am letzten Schreibtisch, standen zwei Mitarbeiter der Spurensuche und schossen noch letzte Detailfotos für die Tatort-Dokumentation. Der herumblickende Kommissar, in seinem weißen Einweg-Overall, schlenderte langsam durch den großzügigen Büroraum. Sein Kopf bewegte sich hin und her, denn vielleicht konnte er noch ein Detail erhaschen, welches seine Kollegen übersehen hatten. Doch außer einigen, vertrockneten Zimmerpflanzen, Stößen von unsortiert wirkendem Papier und Akten auf dem ersten Arbeitsplatz und eine, fast schon krampfhaft penible Gegendarstellung dieser Szenerie am zweiten, fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Die luxuriöse Ausstaffierung des Raumes war dem geschulten Ermittlerauge schon von den Vorangegangenen gewohnt und bewirkte keinerlei Staunen mehr bei ihm.

      Der Regen hatte nachgelassen und die vier großen Kastenfenster, welche dem Eintretenden in das Großraumbüro begegneten, ließen nun die ersten leichten Sonnenstrahlen des Tages hereinscheinen. Wieder einmal konnte der fast schon pensionierte Kommissar seinen Blick nicht von den einfachverglasten Kastenfenstern lassen und schloss seine Augen um die wärmenden, durch die grauen Februarwolken durchblitzenden Sonnenstrahlen auf seiner faltigen Haut zu genießen. Für kurze Zeit war es so, als könnte er sich damit abfinden seinen Ruhestand anzutreten und all das Grauen seines Berufes hinter sich zu lassen. Was aber dann? Täglich Modellschiffe basteln, bis seine kleine Garconniere voll damit war oder gleich den schnellen Notausgang suchen und sich binnen einiger Jahre zu Tode zu saufen? Ein alter Mann wie er, war sich Ulman sicher, konnten nun mal nicht mehr alleine gegen das Verbrechen in seiner, millionenfach bewohnten, Heimatstadt ankämpfen und alle die es nach ihm versuchen würden, seien blondgelockte Jungpolizisten, die erstmals acht Mörder entkommen lassen würden, um aus ihren dilettantischen Fehlern die Schlussfolgerungen zur Ergreifung des neunten zu ziehen.

      Dieses Mal unterbrach ihn niemand in seiner Trancestarre. Weiss betrat zwar ebenfalls den Raum, würdigte den Versteinerten aber keines Blickes und schritt schnurstracks zu seinen beiden Mitarbeitern, die gerade mit der Beweissicherung fertig wurden, weiter. Durch das Vorbeidrängen des zielstrebigen Chef-Forensikers wurde der alternde Gedankenschwelger nun aus seiner Zukunftsausmalung gerissen. Um wieder vollständig zur Besinnung zu kommen schüttelte er seinen Kopf samt seines, mit Haarfett gebändigten und zusammengebundenen Pferdezopfes und bewegte sich ebenfalls auf den dritten Schreibtisch zu. Darunter hockte eine weibliche Leiche. Scheinbar hatte sie noch versucht sich vor dem Täter zu verstecken, musste dann aber, unter panischen Ängsten feststellen, dass ihr schlechtes Versteck ihr Todesort wurde. Die Frau, etwa Mitte zwanzig, wurde mit einem Schuss in den seitlichen Kopf getötet. Der erfahrene Mordermittler erkannte sofort, dass es sich um einen aufgesetzten Schuss handeln musste, da die Eintrittswunde eine fünfeckförmige Sternwunde aufwies. Rundherum war die Haut, von den austretenden Gasen der Pistolenmündung stark verbrannt worden. Auch hier waren weder Hülse noch Projektil zu sichern. Der unsportliche Mittsechziger kroch unter den Schreibtisch und musterte die kauernde Leiche. Die zu Tode Gekommene hockte in ihrer letzten Pose, mit dem Gesäß zu den Fersen und der Brust zu den Knien gefaltet, in ihrem offenkundigen Versteck.

      „Kataleptische Totenstarre, Herr Kommissar“, berichtete eine der beiden Spurensucherinnen.

      Ulman begann zu lachen. Oft lachte er nicht, aber dann zu den ungünstigsten Zeitpunkten.

      „Was ist?“, fragte er, mit seiner kratzig-tiefen Stimme, die ihn skeptisch anblickenden drei Forensiker, „schaut mal her. Weil sich die Muskeln versteift und zusammengezogen haben, konnte der Täter sie nicht am ganzen Körper anschneiden. Sie hat noch einen Bleistift, wie als Verteidigungsinstrument, in der Faust. Bleistift gegen 9mm!“

      „Einschuss in das untere Stirnbein, nahe dem Keilbein. Austritt, glatt auf der anderen Seite gegen den Heizkörper“, analysierte die Spurensucherin, mit der großen Spiegelreflexkamera in den Händen, das Gesehene.

      Unter schwierigsten Windungen krabbelte der sehnenverkürzte Mittsechziger an der kauernden Leiche vorbei und musterte die dahinterliegende Wand samt Heizkörper. „Keine Knochensplitter. Kein Projektil. Also ein aufgesetzter Schuss. Die Kugel hat die Schädeldecke mit eingedrückt, da kann auf der anderen Seite nichts Menschliches herauskommen. Also der Täter erschießt den ersten Mann an der Eingangstüre, geht dann schnell weiter in den Warteraum, erschießt den zweiten Mann und dann hierher. Sieht die Frau unter dem Tisch und bumm!“

      „Sehr gut, Herr Kommissar. Fällt Ihnen noch etwas auf?“, spornte Weiss den wild Kombinierenden weiter an.

      „Durch die Größe der unverbrannten Schießpulverpartikel und der Größe des Abstreifrings kann ich die Entfernung der Tatwaffe auf sehr, sehr kurz schätzen. Hier gibt es nicht viel Blut. Weil die Schusswunde an der obersten Stelle des Körpers ist und die Leiche nicht bewegt wurde. Sehen Sie? Er hat auch nur die Kleidung aufgeschnitten und das entfernt, wo er gut dazu kam. Wieviel Gewebeentnahmen gab es hier?“

      „Wir haben nun insgesamt vierunddreißig gesichtet“, zählte die zweite Spurensucherin, ohne Kamera, aber mit Notizblock, nochmals aus den Mitschriften ab.

      „Und dann hatte er genug Haut? Oder war die Zeit zu knapp?“, war sich, der schwerfällig wieder aufrichtende Ulman, nicht sicher. Eindeutig hatte er es hier mit einem gefühlskalten, unberechenbaren und narzisstischen Menschen zu tun der, so tippte der routinierte Kommissar, nicht das erste Mal gemordet hat.

      „Gut, ich habe alles gesehen. Bitte senden Sie mir den Bericht so schnell als möglich zu. Ausgedruckt! Sie wissen, ich will immer alles auf Papier stehen haben!“, bat der multimedial Zurückgebliebene den grinsenden Weiss um Nachsicht.

      Als er über den Warteraum und durch den Eingangsflur, wieder in das Treppenhaus zurückkehren wollte, blieb der, abermals über Sohlenabdrücke und Markierschilder steigende Ulman, noch für einen Moment stehen und betrachtete das erste Opfer.

      „Was für ein kranker Mistkerl! Wir haben hier vier Schreibtische und drei Opfer. Bei dieser Tat muss sich jemand mit den Gegebenheiten hier ausgekannt haben. Er muss gewusst haben, dass er hier keine Zeugen und Ruhe vorfindet und er muss gewusst haben wo er welche Opfer auffinden

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