Stadtflucht. Stephan Anderson
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Auf keinen der vertraut wirkenden Personen, die ihn nahmen so wie er war, konnte er nun in dieser, für ihn so misslichen Lage, zählen, saß er doch am Beifahrersitz eines Autos, eines Kommissars der Mordkommission und tingelte mit diesem, im schleichenden Tempo, von einer roten Ampel zur nächsten.
Nicht einmal als der wortlose Chauffeur die Fenster öffnete, um das von der voll aufgedrehten Heizung stark erwärmte Wageninnere zu kühlen, kam Aaron ein Ton aus. Kein Vortrag über Umweltsünden, keine Predigt über Ressourcensparen. Auch nicht, als sich Ulman genüsslich eine Zigarette anzündete und die Passivrauchschwaden dem Beifahrer ins Gesicht qualmten. Es brodelte in ihm, aber er sagte nichts. Es bedurfte keiner Dissertation in Menschenkenntnis, dass jegliche kritische Ansage vom Beifahrer- zum Fahrersitz, seiner Situation nicht dienlich war. Aaron war diesem cholerischen, ungebildeten, masochistischen und ignoranten Grobian ausgeliefert. Die schlimmste Bewandtnis, die er sich wohl ausmalen konnte. Nicht im Bilde, verdreckt, durchnässt und ausgeliefert. Selbst für einen notorischen Pessimisten wie ihn nicht vorstellbar. Er zog die Haube tief, bis an seine Augenbrauen, hinunter und versteckte sein Gesicht bis zur Nasenspitze in seinem Jackenkragen, blickte starrsinnig aus dem Beifahrerfenster, des nach Dieselabgasen und Zigarettenqualm stinkenden Oldtimers und versuchte sich mit der Beobachtung der vorbeirauschenden Straßenszenerie die Zeit zu vertreiben und irgendwie warm zu halten.
Menschen, welche großgewachsene Hunde, mit Beißkorb und kurzer Leine, aus ihren kleinen Wohnungen heraus, durch die Massen von Fußgängern, für einen Ausgang über die Gehsteige zerrten. Nur, um dann in abgezäunte, graslose und trostlose Vierbeinerzonen zu gehen. Für Aaron Tierquälerei. Sein Ausweg: Hundesteuer in urbanen Räumen drastisch anheben. Gruppen von kopftuchtragenden Musliminnen, die mehrere Kinderwägen vor sich herschoben. Für Aaron der Untergang der freien Welt. „Wo waren die Männer?“, fragte er sich. In seinen Augen eine Unterdrückung der Frauen, keine Gleichberechtigung und bei gleichbleibend hoher Fertilitätsrate des Migrationsmilieus, eine Ausdehnung von bildungsfernen Schichten und Kriminalität. Sein Ausweg: Gesteigerte Zuwanderung aus aufgeklärten und christlichen Ländern. Jogger, die versuchten im Slalomlauf, den zuvor genannten Mitpassanten auszuweichen, um neben einer dreispurigen Straße, im Smoggewirr der Millionenmetropole, ihrem Sport nachzugehen. Aus Aarons Sicht Verrückte, die sich der naturfremden Umgebung des Betonlabyrinths Großstadt blind ergeben haben. Stadtneurotiker. Leute, die die Bindung zur ursprünglichen Koexistenz zwischen Mensch und Natur vollkommen verloren hatten. Aaron hatte hierzu keinen Ausweg parat.
Er hatte die Hauptstadt einfach nur noch satt. Die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, die nervigen Mitmenschen, die unter, über und neben ihm wohnten und die hohe Kriminalität, an der er jetzt auch partizipieren musste. Gequält versuchte er es zwar, aber weiter konnte er seine Haube nicht hinunterziehen und so bleiben seine Augen weiterhin unbedeckt, um die, für ihn so schlimme Fahrt, mit allen Sinnen spüren zu müssen. Am liebsten wollte er nun über alles Gesehene seine Meinung abgeben. Aber er konnte nicht. Wie eingegipst in einem starren Korsett, auf einem Folterstuhl, bedingt durch die offenen Fenster vom Fahrtwind frierend, mit den Armen fest seinen blau-weiß-karierten Rucksack umarmend und im stinkenden Umfeld aus Zigaretten- und Abgasgestank sitzend, starrte er unaufhaltsam, wie hypnotisiert, auf das ihm dargebotene großstädtische Schauspiel. Menschen auf Smartphones glotzend, die sich dabei, in eine parallele Digitalwelt abdriftend, gegenseitig über den Haufen rannten. Frauen, die stolz Einkaufstüten von teuren Modelabels durch Einkaufspassagen trugen, ohne sich erkundigt zu haben, wieviel Flüsse in Südostasien dafür vergiftet wurden. Und Jugendliche, die an einem Arbeits- und Schultag, bereits kurz nach Mittag, mit Trainingsanzug adjustiert, von jeglichem Zwang auf Erwerbstätigkeit oder Bildung befreit, durch die Straßen schlenderten und dabei ihren hellen Spaß hatten. Tierquäler, Umweltsünder, unser lokales Wirtschaftssystem Ruinierende, Konsumverrückte, nur auf Oberflächlichkeiten bedachte, nichts zur Gesellschaft Beitragende. „Und ich muss mit all dieser Dummheit in einem Boot sitzen und kann nicht von Bord. Irgendwann explodiert dieser Planet und ich muss mitendrinnen sitzen“, multiplizierte sich die Negativität in Aarons Kopf und drohte seine Denkummantelung zu sprengen.
Dem ungewollten Beifahrer wurde schlecht. Die traumatisierende Aufregung des Tages, der Gestank, das erneute Beziehungsende mit seiner Freundin. Es räkelte ihn. Kein Frühstück und ein gut gelehrter Darm, brachte er bis hierher mit. Nur Magensäuren, vermischt mit einigen unverdauten Nahrungskrümeln, quollen aus ihm heraus, indes er sich, bei weiterhin gemächlicher Fahrt, aus dem Beifahrerfenster des himmelblauen Citroens lehnte und übergab. Seinen Körper durchzog ein nicht enden wollenden kalter Schauer, unter der heruntergezogenen Haube standen Schweißperlen auf seiner Stirn und als wollte sein Sehorgan seinen gesellschaftskritischen Geist schützen, wurde ihm schwarz vor Augen.
„Sind Sie völlig übergeschnappt?“, donnerte Ulman dem würgenden Beifahrer eine verbale Schelte an den schwindeligen Kopf.
Beim Autofahren konnte sich der großstädtische Kommissar immerwährend entspannen, aber nun musste er feststellen, dass die Außenseite seiner himmelblauen Beifahrertüre mit Erbrochenem besudelt war und dass der, wenn auch gemächliche Fahrtwind, die ekelhafte Flüssigkeit auch noch längsseitig am altehrwürdigen Fahrtzeug verschmierte.
Ungewohnt aber doch, trat der vollkommen ausrastende und schreiende Ulman das Gaspedal nun voll durch und bewältigte die letzten drei Häuserblocks bis zum Hauptgebäude der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost in Rekordzeit.
Aaron bekam von der kurzen Raserei nichts mehr mit. Sein Körper rebellierte und er schnaufte verzweifelt nach Luft. Als der Wagen auf dem Parkplatz des sechsstöckigen Gebäudes parkte, fuhr durch den kollabierenden Zeugen wieder ein kalter, betäubender Schauer. Am Ende des Tunnels, in den er nun wieder eintauchte, war kein Licht, sondern nur Dunkelheit und diese legte sich nun über seine Augen. Nichts mehr bekam er noch mit. Nicht das Geschrei des, aus dem Auto springenden und die seitliche Verunreinigung seines französischen Oldtimers betrachtenden Kommissars und auch nicht den einsetzenden Regen, der das kahle, farb- und trostlose Ambiente der Großstadt in die vierte Dimension beförderte.
Kapitel 5 Unmodische Aufmachungen
Der sich verfassungsrechtlich selbsternannte Föderalstaat fand in seiner ehemals kaiserlichen Kapitale das politische, kulturelle und normative Zentrum sowie sein weltumspannendes Sprachrohr. Demgegenüber stand das provinzielle und spartanisch ausgestatte Land, dessen jahrhundertelange Prädestination es war, im peripheren Sog der hegemonialen Metropole am Strom, all sein menschliches Bildungstalent und Fiskalzuwendungen abzutreten. So, wie die staatlich unterschiedlich gewichteten Gebietskörperschaften mit sich umgingen, so behandelte Kommissar Sebastian Ulman nun auch den einzigen Zeugen der Morde in Distrikt neunzehn, Aaron Röttgers.
„Kommen Sie, aussteigen. Mit Ihren schmutzigen Lumpen versauen Sie mir auch noch meine Ledersitze“, war der alternde Ermittler außer sich, als er die verschmierte Kotze, auf der Seite seines himmelblauen Citroen AX, schockiert wahrnahm. Peinlichkeit konnte man Aaron in dieser deplatzierten Sachlage nicht nachsagen. Vielmehr war er bekannt als positivistischer Nehmer und pessimistischer Geber von Zuneigung und Gefühlen. Der Zustand des geliebten französischen Gefährtes war ihm genauso egal, wie die pathetische Befindlichkeit des aufgebrachten Besitzers. Lediglich seine zwischenmenschliche Ausgangslage sah er in einem diffuseren Licht erscheinen.