Stadtflucht. Stephan Anderson

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Stadtflucht - Stephan Anderson

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großen Milchglastür endete. Aaron stützte sich an der marmorvertäfelten Wand ab und beobachtete seinen hageren Wegweiser mit kurzem Pferdeschwanz, wie er mit schneller Fingerkombination einen fünfstelligen Code in eine Tastatur, rechts neben der Türe eintippte, bis diese einen Summerton von sich gab und öffnete. Ulman drückte die Türe auf und drehte sich zu seinem widerwilligen Verfolger um: „Eintreten und setzen.“

      Ohne Widerwort folgte ihm dieser und nahm auf einer langen Holzbank, gleich links neben dem Eingang, Platz.

      „Sie warten hier. Haben Sie einen Ausweis dabei? Wenn ja, geben sie ihn mir“, erläuterte der zur Bürokratie kommende Beamte das weitere Vorgehen mit kurzer und bestimmender Reibbrettstimme. Zwar war Aarons Verstand in die Klarheit zurückgekehrt, aber sein Körper konnte mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten. Seine Atmung wurde immer schwerfälliger. Mit letzter Kraft kippte er sein Gesäß zur Seite und holte aus seiner rechten, hinteren Hosentasche sein Portmonee heraus. Darin stocherte er, inmitten seiner Sozialversicherungs- und Kreditkarte, seinen Personalausweis hervor, reichte es dem einfordernden Kommissar und begleitete die Übergabe mit einem tiefen Blick in dessen beschattete, rehbraune Augen. Als wollte er ihm noch eine telepathische Epistel mitgeben, dass hinter dem schwitzenden Gesicht und der weinerlichen Stimme, noch ein bestimmender und zielstrebiger Charakter verborgen lag, den man lieber nicht in die Enge trieb. Nicht mehr als drei Sekunden dauerte der Blickkontakt der beiden braunäugigen Einzelgänger an. Doch zumindest bei Ulman schien das kurze seelendeklarierende Intermezzo grübelnde Nachwirkungen hinterlassen zu haben. Denn als er sich, mit des Zeugen Personalausweises in der Hand, auf den Weg zum Empfang machte, blieb er kurz stehen, drehte sich um und musterte nochmals den auf der Holzbank Kauernden, welcher seinen Rucksack umarmte und starr, wie in Trance versetzt, die anthrazitfarbenen Fliesenboden neben seinen Winterschuhen fixierte. Für kurz schoss dem altgedienten Mittsechziger ein marternder Stich durch den Kopf, als hätte er durch die kalten und müden Augen dieses Mannes in seine eigene Seele geblickt. Nur, dass jene des Kronzeugen kohlschwarz und seine graumeliert war. Für einen Mann, der schon so viel Gräuel und Übel durch alle gesellschaftlichen Couleurs hindurchgesehen hatte, wäre dieser Eindruck keine Seltenheit gewesen, aber die Verstörtheit, Kaltblütigkeit und Verachtung der Welt, welche der hartgesottene Ermittler nur in dieser kurzen Blicksequenz empfing, schockierte ihn zutiefst. Dann setzte er seinen Weg fort und übrig blieb Aaron, der seine Fassung an den Boden verlor. Eine anthrazitfarbene Fliese fügte sich an die nächste, nur durch weiße Fugen unterbrochen, welche sich über die Jahrzehnte in beige färbten. Welche Mörder, Verbrecher und traumatisierte Zeugen mögen wohl schon darüber gewandert und auf dieser Holzbank gesessen haben? Zu Aarons Linken war ein längliches Vorzimmer, welches an einem Empfang mündete und zu seiner Rechten eine Milchglastüre, in dessen Mitte er, seitenverkehrt, in klarem durchsichtigem Glas, das Wort ´Morddezernat´ entzifferte. ´Morddezernat´, weit war der aufmüpfige Problemschüler vergangener Tage gekommen. Schon wieder.

      Früher wartete er mit den gleichen Schweißausbrüchen, dem gleichen schweren Atem, dem gleichen mulmigen Gefühl im Magen und dem gleichen Tinnitus, hervorgerufen durch das Blut, welches rasant in seinen Kopf schoss, vor der Direktion seines Oberstufengymnasiums. Im gleichen Bewusstsein, für die unangenehmen Folgen seiner schäbigen Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Aber heute? Die gleiche Konstitutionskette, aber verbrochen hatte er nichts. Anders als vor der Schuldirektion, wo sich die Ausdünstungen, oft wohltuend, oft ekelerregend, von achthundert Schülern und neunundfünfzig Lehrern, mit jenen der Schulbuffetfritteuse und der stapelweisen Naschereien-Anhäufungen der Direktionssekretärinnen vermischten und seine Nase, mit der allumfänglichen Mixtur peinigten, die wohl alle Gerüche der Welt in sich beherbergte und ihn allumfänglich mit schlechtem Karma belegte, roch es hier neutral. Sein Riechorgan war komplett taub. Nicht einmal seine verdreckte Kleidung sonderte etwas Verwertbares für diesen Sinn ab. Weder Putzmittel, noch Speisen, noch nach Menschen. Nur die über ihm brummende Klimaanalage, die unaufhaltsam frische Luft in das alte, renovierte Gebäude blies, beförderte hie und da die Essenz von Hausstaubgeruch in den Wartebereich.

      „Ein frigider Ort mit sterilen und gefühlskalten Menschen“, dachte sich Aaron konstatiert und versuchte wieder Herr über seine Hormonausstöße, Transpiration und Atmung zu werden. Was für ein Tag. Noch vor acht Stunden kroch er wie jeden Tag unmotiviert aus seinem Bett und begrüßte die Welt außerhalb seiner Wohnung mit der gleichen Abfälligkeit, mit dem sie ihn zu begegnen gewohnt war. Sein Bett, sein Fernseher, seine Spielekonsole, ja, er dachte sogar kurz an seine Ex-Freundin, mit der er mehr Streitigkeiten auskämpfte, als zärtliche Momente verbrachte. Nach all dem sehnte er sich wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und überhaupt, egal was da an seiner Arbeitsstätte heute Morgen vorfiel, nichts würde mehr so sein wie zuvor. Das, was er bezeugen konnte, verhieß nichts Gutes. Zugegeben, er mochte seine Arbeit nicht besonders, doch schätzte man ihn dort ob seiner Redegewandtheit und seines Verhandlungsgeschicks. Seine Kollegen nahmen ihn so wie er war. Aber welche Arbeit, außer reicher Lebemensch, passte schon zu Aaron? Aus einer Sicht hatte er nur ein Leben und jede Sekunde, die er als Arbeitnehmer verbrachte, war eine verlorene. Seine positivistischen Erdungspunkte in der grausamen Welt schienen nun vollkommen zerbrochen. Kein Job, keine Lebensgefährtin, keine Anonymität.

      „Wäre ich doch nicht so feige“, kanzelte er sich ab, „und wäre ich doch nicht so gespannt darauf, wer der nächste Fußballmeister werden würde!“ Der ständige Ärger über seine Umwelt und die Verzweiflung über seine Hilflosigkeit. Wäre er nicht so feige und neugierig auf die nächsten Sportergebnisse, sein jämmerliches Dasein hätte er schon längst selbst beendet. Allmählich fasste er sich und zog seine dicke Daunenjacke aus. Seine Atmung normalisierte sich und den weggewischten Schweißperlen auf seiner Stirn folgten keine weiteren mehr. Mit Fortdauer des Wartens schob er jegliche Suizidgedanken beiseite und fasste, wie so oft, darin neuen Mut irgendwo anders ein neues Leben anfangen zu können.

      Norwegen? Keine heißen Sommer. Schottland? Ewige Weiten und keine Menschenmassen. Kanada? Egal wie schlimm die Klimaerwärmung werden würde, dort bekäme er sicher wenig davon mit. Und als er seinen flüchtenden Zukunftsgedanken freien Lauf ließ, um sich moralisch wieder selbst aufzubauen, unterbrach eine piepsende Frauenstimme seine innere Eintracht.

      „Herr Röttgers? Bitte kommen Sie mit mir.“

      Eine Frau mittleren Alters mit flachen Damenschuhen, einem hellgelben Hemd, welches in eine dunkelblaue Stoffhose gesteckt und von einem weißen Medizinerkittel bedeckt war, lächelte ihn an.

      „Mein Name ist Krings. Wir müssen einige Tests machen. Darf ich Sie bitten mir vorab Ihren Rucksack und Ihre Jacke auszuhändigen?“

      Durch ihre freundliche Art konnte sie Aarons archivierten und niedergeschmetterten Gesichtsausdruck eines seiner wenigen Lächeln am heutigen Tag abringen und so gab sich dieser sehr höflich und kooperativ: „Gerne“.

      Er folgte ihr in einen Raum, der gleich nach dem langgezogenen Empfangsbereich lag und die Spurensicherung beherbergte, was anhand eines Türschildes mit dieser Aufschrift, zu erkennen war. Die Frau schloss den Zugang und stellte sich vor: „Mein Name ist Isabella Krings, ich arbeite für die Spurensicherung im Morddezernat der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost. Haben Sie Fragen an mich?“

      „Ja“, entgegnete Aaron aufgekratzt, einen anderen Menschen in dieser unangenehmen Angelegenheit als Kommissar Ulman sprechen zu können, „was ist genau passiert und was wirft man mir vor? Kann ich danach nach Hause gehen?“ Ihm war klar, dass zumindest die letzte Frage sehr optimistisch ausfiel, er aber unbedingt in Erfahrung bringen musste, was sich heute Morgen genau ereignet hatte.

      Mit stoischer Ruhe fixierte die Spurensicherin ihre blonden Haare zu einem Dutt, setzte sich eine gelbumrandete Brille auf und zog sich schwarze Einwegplastikhandschuhe über ihre feingliedrigen Hände, so als wolle sie für die nun folgende Antwort Zeit zum Überlegen gewinnen. „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Kommissar Sebastian Ulman hat mich gebeten Ihre Kleidungsstücke und Utensilien, sprich deren Inhalt zu sichern. Daher haben wir für Sie vorübergehend Ersatzkleidung parat. Ist das in Ordnung?“

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