Die goldene Harfe. Gerhart Hauptmann
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Graf Friedrich-Alexis. Günther hat recht, es ist ein Mysterium. Die Seele ... es ist nicht wahr! sie ist nicht Luft: sie hat nicht nur Flügel, sie hat auch Wurzeln. Es klingt paradox, aber sie verlernt das Fliegen, Erlaucht, wenn sie ihre Wurzeln aus der Muttererde nimmt.
Gherardini, mit Klavierbegleitung, forsch. Und darum sangen wir damals, als man uns diese Muttererde geraubt hatte und wir sie zurückerobern wollten – singt.
Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!
ins Feld, in die Freiheit gezogen.
Reichsgraf Waldemar tritt ein und erhebt, das laute Wesen beschwichtigend, die Hand.
Reichsgräfin Anna, in die entstandene Stille. Was ist mit Juliane?
Reichsgraf Waldemar. Ich fand sie bei ihrer goldenen Harfe, die ja im Augenblick, wie du weißt, ihr ein und alles ist.
Reichsgräfin Anna. Ich dachte, Liebling, du würdest sie mitbringen.
Reichsgraf Waldemar. Ich bekenne, ich habe das gleiche gedacht. Er wendet sich zu den Grafen. Aber unsere Tochter, müssen Sie wissen, ist ein Wesen von unendlicher Güte zwar, doch zugleich von einer Empfindsamkeit, der nicht immer ganz leicht zu begegnen ist.
Graf Friedrich-Alexis. Mir scheint, wie bei allen echten Frauen.
Reichsgraf Waldemar. Sie haben meine Tochter als Kind in Erinnerung: sie hat damals im zwölften Jahre gestanden.
Graf Friedrich-Alexis. Sie war ein Engel Gottes, Erlaucht, ein kindlicher, süßer Engel Gottes, der uns drei verschworenen, sporenklirrenden Kämpen die Weihe für Schlacht und Tod gegeben hat. »Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus ...«, und jeder von ihnen hat eine Locke von diesem Engel als Talisman auf der Brust getragen.
Reichsgräfin Anna. Hat Juliane davon gewußt?
Graf Friedrich-Alexis. Sicher hat sie davon gewußt. Wir haben getollt, gelacht und mit ihr gescherzt, als wir ihr die Locken abtrennten. Uns steht Juliane überhaupt als ein Wildfang in Erinnerung.
Reichsgraf Waldemar. Wenn Sie diese Juliane wiederzufinden hoffen, täuschen Sie sich. Gerade die Augenblicke, von denen Sie reden, verbunden mit dem Heldentod ihres geliebten Bruders, unseres Sohnes, haben einen ernsten, in sich gekehrten Menschen aus ihr gemacht, dem nahezukommen nur einem ganz intimen Kreise von Freunden möglich wird.
Gherardini. Und dennoch, Erlaucht, wer das Glück hat, wie ich, öfters um die gnädige Komteß zu sein, kann immer wieder erleben, daß das lebensfrohe Kind von einst zwar in die Hintergründe ihres Wesens zurückgewichen, jedoch Gott sei Dank noch vorhanden ist. Wenn der Himmel mir gnädig ist, so gelingt es mir manchmal, unter dem Musizieren ihr durch irgendeine trockene Bemerkung ein unwiderstehliches Lachen abzugewinnen, das wahrhaft erquickend ist.
Graf Friedrich-Günther. Wir werden also Komteß Juliane jetzt nicht sehen?
Reichsgraf Waldemar. Vielleicht zum Abend, vielleicht auch jetzt – ich weiß es nicht. Für jeden Fall möchte ich einen Wink geben: vermeiden wir alles, Lieder aus »Leier und Schwert« und dergleichen, was die Erinnerungen an jene Abschiedsstunden vor Jahren allzu lebendig machen kann. Juliane treibt einen Kult mit dem Andenken ihres Bruders.
Sulzer ist unauffällig an den Reichsgrafen herangetreten. Mit Verlaub, Erlaucht: die gnäd'ge Komteß.
Unbemerkt ist Komteß Juliane eingetreten. Einen Schritt von der Tür stehengeblieben, hält sie die Hände im Schoß gefaltet und blickt fest und mit geschlossenen Lippen jetzt den einen, jetzt den andern der beiden Zwillingsgrafen an. Jutta ist hinter Komteß Juliane hereingeschlüpft und macht sich neben Gherardini am Piano zu schaffen.
Reichsgraf Waldemar. Wie lieb, daß du doch noch gekommen bist.
Komtess Juliane. Dachtest du, ich wollte nicht kommen?
Reichsgräfin Anna. Setze dich zu mir, Juliane. Du wirst eine große Freude haben über den Besuch, der eingetroffen ist.
Die Zwillingsgrafen sind emporgeschnellt, stehen abwartend und betrachten Komteß Juliane mit funkelnden Augen.
Komtess Juliane, abwechselnd die Zwillinge betrachtend, wie abwesend. Eine Freude, sagst du – welcher Besuch?
Reichsgräfin Anna. Hier, trink eine Tasse Tee, Juliane – Ludmilla wird dir ein Täßchen einschenken. Nun, sieh dir die beiden schönen Kavaliere einmal genauer an: solltest du sie nicht wiedererkennen?
Komtess Juliane, wie erwachend, mit Bestimmtheit. Sie will auf den Grafen Friedrich-Günther zugehen, stockt, wendet sich dann Graf Friedrich-Alexis zu und gibt ihm die Hand. Graf Alexis, gewiß. Sie blickt ihm ins Auge, macht sich dann frei, geht zu Graf Friedrich-Günther, ihm ebenfalls die Hand reichend. Und das ist Graf Günther.
Reichsgräfin Anna. Lohnt es nun oder nicht, Juliane? ich meine die kleine Unterbrechung in den Arpeggien deiner goldenen Harfe, Kind.
Komtess Juliane, sanft. Wie hätte ich das zu verstehen, maman?
Reichsgraf Waldemar. Juliane, die Herren haben eine Reise beinahe rings um die Erde hinter sich. Sie verstehen wunderbar zu erzählen: Kopenhagen, Plymouth, Teneriffa, Brasilien, Chile, Kamtschatka, die Osterinsel und so fort und so fort. Wir werden diese seltenen Zugvögel so lange bei uns auf Schloß Ulmenweiler festhalten, bis uns zumute sein wird, als hätten wir selbst die Reise gemacht.
Graf Friedrich-Günther. Ja, ja, es ist seltsam genug, Komteß, nach so vielen Erlebnissen fremder Zonen wieder hier und vor Ihnen zu stehn.
Graf Friedrich-Alexis. Wir fanden auf einem aus weißem Alabaster errichteten Säulentempel in Indien, der von ummauerten künstlichen Gärten eingeschlossen war, die Worte leuchten: »Schließ aus den rauhen Odem der Wirklichkeit, und nur dem Duft der Träume gib Dach und Fach!« Man braucht nicht nach Indien gehen, um diesen schönen Imperativ verwirklicht zu finden. Unsere alten verwunschenen Schlösser und Parke mit Weihern, Schwänen, Äolsharfen und Einsiedeleien sind Beweis dafür.
Reichsgraf Waldemar. Man sollte meinen, Sie, und nicht der Bruder, seien der Dichter-Graf, während Sie doch, wie ich weiß, in der großen Welt als Musik-Graf geführt werden.
Graf Friedrich-Alexis. Sind wohl Musik und Poesie zu trennen, Erlaucht?
Reichsgraf Waldemar. Sie haben recht: sie sind nicht zu trennen. Ebensowenig wie die beiden Zwillinge Alexis und Günther zu trennen sind.
Gherardini. Kastor und Pollux! – Wie Kastor und Pollux, die eigeborenen Kinder der Leda und des Zeus, zu sein ... nein, geradezu Kastor und Pollux zu sein: dieser herrliche Ruf geht nun einmal den beiden berühmten Grafen voraus.
Komtess Juliane hatte ihre Hände ineinandergelegt, sie sozusagen nach unten gerungen und geschlossenen Mundes mit sich gekämpft, ob sie einen gewissen Gedanken aussprechen soll oder nicht. So beginnt sie mit Überwindung. Wir haben sogar einen ähnlichen Tempel wie den von Graf Friedrich-Alexis in fernster