Das einfache Leben. Ernst Wiechert

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Das einfache Leben - Ernst Wiechert

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Wellen verging. Dann fiel ihm etwas ein, und er ging schnell die wenigen Straßen zur Kirche hin. Der Turm stand dunkel in der hellen Nacht, aber im Predigerhaus, hinter dem großen Garten, waren zwei Fenster noch erleuchtet.

      Thomas stieg über den niedrigen Zaun und ging auf das Licht zu. Die Fenster lagen zu ebener Erde, und als der Kies unter seinen Schuhen knirschte, trat oben ein Mann ins Licht. Er war dunkel gekleidet, und Thomas meinte noch niemals einen so großen, schweren Menschen gesehen zu haben. Er war noch nicht in der Kirche gewesen.

      »Es ist spät, Herr Pfarrer«, sagte er, »aber ich würde Sie gern noch gesprochen haben.«

      Der Geistliche beugte sich schweigend vor, um das beleuchtete Gesicht zu erkennen. Dann trat er wortlos zurück, und Thomas hörte ihn die kurze Treppe herunterkommen, bis er die Haustür aufschloß. »Treten Sie leise auf«, sagte er, »sie schlafen schon alle.«

      Der große Raum war nur mit Büchern gefüllt. Ein bäuerlicher Christus aus grauem Holz hing lebensgroß zwischen den Fenstern. Thomas setzte sich nicht ohne Verwirrung, weil das Ausmaß der Figur ihn erschreckte. Doch ließ der Pfarrer sich nichts merken und sah ihn nur ruhig an. »Es kommen manche um diese Zeit«, sagte er, »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich weiß dann wenigstens, daß es ernst ist.«

      Nun erst sah Thomas ihn an. Sein Vater noch mochte hinter dem Pflug hergegangen sein, aber es war wohl ein grüblerischer Gang gewesen, und in diesem Sohn war es nun ausgebrochen. Stirn und Mund waren zersorgt und zerquält, aber über dem glatten grauen Haar mochte doch zu Zeiten derselbe Schein stehen wie über dem Holzbild an der Wand. Das Gesicht war zugeschlossen, aber die Augen sahen ihn nicht ohne Freundlichkeit an, alte und vielwissende Augen, und Thomas fühlte sich jung und töricht unter ihrem Blick.

      Er seufzte, bevor er begann. »Ich bin kein Kirchengänger, Herr Pfarrer«, sagte er entschuldigend.

      Der andere erhob nur die Hand. »Wir wollen von den wichtigen Dingen sprechen«, unterbrach er.

      »Auch die Bibel habe ich lange nicht gelesen«, fuhr Thomas fort, »seit meiner Einsegnung nicht. Der Dienst war schwer, und es wollte nie recht zusammenstimmen … Heute nun fand ich unter meinen Büchern den Psalter, eine ganz alte Ausgabe, groß gedruckt, durch eine Erbschaft während des Krieges zu mir gekommen. Ich habe darin geblättert und fand den neunzigsten Psalm. Ich entsann mich wieder auf das meiste wenigstens, aber ein Vers war mir unbekannt. Als Kind liest man darüber hinweg, und auf Kinder trifft er ja nicht zu. ›Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz‹, steht dort geschrieben. Zuerst las ich weiter, als sei es wie das übrige, aber dann kehrte ich gleich wieder zurück und las ihn noch einmal. Und dann las ich nicht mehr weiter … es war wie ein Mast, der über einen stürzt, und man kann nicht aufstehen unter ihm …«

      Der Pfarrer nickte. Er hatte den Kopf in die rechte Hand gestützt und Thomas unbeweglich angesehen. »Ja«, sagte er, »Sie werden das natürlich als einen Zufall bezeichnen, daß Sie gerade dies gelesen haben. Ich selbst, wenn es mir widerfährt – und es widerfährt mir oft –, ich sehe es natürlich anders an. Ich weiß dann, daß ein solcher Vers gewartet hat, bis es Zeit geworden ist. Verstehen Sie? Es ist nicht so, daß ein Mensch für sich lebt und ein Vers wieder für sich, und vielleicht kreuzen ihre Wege sich einmal. Sondern es ist so, für mich natürlich nur, daß der Vers auf seinen Menschen wartet und der Mensch auf seinen Vers. Aber wenn es sich erfüllt hat, ein bestimmtes Stück der Lebensbahn, ein Sturz oder ein Aufstieg, oder auch nur eine bestimmte Düsternis und Verwirrung, dann ist der Vers da. Er schlägt gewissermaßen das Buch auf, er selbst, er enthüllt sich, er stellt sich auf den Weg. Und dann kann man nicht herumgehen oder ausweichen. Er ist wie Eisen, das zuschlägt. Er hat uns … ist es nicht so?«

      »Ja«, sagte Thomas leise, »er hat uns … so ist es.«

      »Und nun soll ich Ihnen sagen, was Sie damit anfangen sollen, nicht? Der Vers bedrückt Sie, er ist wie ein leiser, dumpfer Schmerz, der immer da ist. Sie lesen etwas anderes, oder Sie gehen spazieren, viele Stunden lang, am Tage oder lieber in der Nacht. Oder Sie denken an Skagerrak oder an das Ende. Aber er geht immer mit Ihnen, er ist nicht mehr außen, in einem Buch, das in Ihrem Hause bleibt, wenn Sie das Haus verlassen. Er ist schon in Ihnen, in Ihrem Blut, ganz tief. Sie sind nicht mehr sein Herr.«

      »Ja«, sagte Thomas, »so ist es.«

      »Sie müssen es nun so ansehen«, fuhr der Pfarrer fort, »oder vielmehr, es ist wohl richtig, wenn Sie es so ansehen: Der Vers hat das Seine getan, er hat sich gleichsam vom Tode auferweckt, er ist für Sie auferstanden. Und nun fragt sich, ob Sie das Ihre tun wollen. Ich will es nicht ›auferstehen‹ nennen, denn das ist ein sehr großes Wort. Es fragt sich, ob Sie den Vers wieder begraben wollen, ihn erwürgen und zuschütten … ja, ich sagte, ›erwürgen‹! Dann rührt er sich noch eine Weile, so wie das Kind bei Tolstoj, wissen Sie? In der Nacht, wenn Sie aus einem Traum auffahren, oder in einer Gesellschaft, oder vielleicht, wenn Sie Ihren Jungen ansehen. Aber dann ist er still, so still wie vorher. Er hat angeklopft, und Sie haben nicht aufgemacht. Sie haben die Hunde auf ihn gehetzt, und er ist tot. Für sie ist er tot, ewig und unabänderlich.

      Das ist der eine Weg. Der andere ist ebenso klar, nämlich, daß auch Sie nun das Ihrige tun, nicht wahr? Daß Sie eben aufhören damit, Ihre Jahre zuzubringen wie ein Geschwätz. Und wenn Sie das tun, dann ist der Vers still. Das heißt, seine Mahnung ist still, sein Vorwurf, seine Klage. Er trifft nicht mehr zu für Sie, Sie haben ihn erlöst. Im Märchen wird aus einem Drachen eine Prinzessin. Im Leben ist es so, daß man eben aufhört, so zu sein. Daß man anders wird, kein Heiliger, und kein Prophet, aber eben anders, nicht?«

      »Ja«, sagte Thomas, »aber wenn man nun das nicht so ohne weiteres kann … fromm werden, meine ich, oder glauben, oder wie man es nennt …«

      »Fromm werden? Glauben?« Der Pfarrer beugte sich vor und sah ihn erstaunt an. »Wie kommen Sie darauf? Arbeiten soll man, arbeiten! Verstehen Sie? Nichts als arbeiten! Das heißt es.«

      »Aber Sie als Pfarrer …«

      Der schwere Mann stand auf und trat vor das riesige Christusbild. Er war ebenso groß wie das Bildwerk, und sie sahen einander aus gleicher Höhe in die Augen. »Dieser hier«, sagte der Pfarrer leise, sich halb umwendend, »wird mir verzeihen, daß ich seinen Namen so selten nenne. Daß ich nur von dem einen spreche, das uns heute not tut, von der Arbeit. Auch in der Kirche, gerade in der Kirche. Vier Jahre haben wir seinen Namen mißbraucht, nun wollen wir ihn vier Jahre verschweigen. Wir haben getötet, und nun wollen wir arbeiten, schwer und keuchend und schweißbedeckt, nichts als arbeiten. Und dann wollen wir sehen, ob wir wieder würdig sind, seinen geliebten Namen auszusprechen.«

      »Und wie arbeiten, Herr Pfarrer? Welche Arbeit? Ich selbst, ich …«

      Der Pfarrer hob die Hand. Er stand nun mit dem Rücken gegen das Fenster, als sei er eben aus dem Dunkel der Nacht herausgestiegen, ein Bauer, den seine Felder nicht schlafen lassen. »In dieser Gemeinde«, sagte er, »wohnen Minister und Straßenkehrer. Beide kommen nicht in die Kirche, aber beide arbeiten, und beider Arbeit ist mir gleich wert. Die eine kann ich sehen, wenn ich aus dem Hause trete, die andere kann ich nicht sehen, ich errate sie höchstens oder lese in der Zeitung davon. Ich glaube auch, daß der Straßenkehrer glücklicher ist mit seiner Arbeit als der Minister. Er hat seinen Abschnitt, seinen Besen und seine Karre. Er hat seine Grenzen, über die ihm keiner hereinkommt. Das hat der andere nicht. Und ein Pferdeapfel ist leichter zu beseitigen als Intrigen oder politische Feindschaft oder was sie sonst wollen. Aber außerdem kann der Straßenkehrer immer hoffen, einmal Minister zu werden, während jener keinen Stern hat, den er aus dem Himmel herunterholen könnte. Aber das ist alles gleich, ganz gleich. Sie dürfen nicht fragen: ›Welche Arbeit?‹ Sehen Sie meinen Tisch an! Sehen Sie die Briefe! Dutzende, Hunderte von Briefen, mit Blut geschrieben, ja, ich sage es ausdrücklich: ›Mit

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