Paul Natorp: Johann Heinrich Pestalozzi, Sein Leben und seine Ideen. Paul Natorp

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Paul Natorp: Johann Heinrich Pestalozzi, Sein Leben und seine Ideen - Paul Natorp gelbe Buchreihe

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Seite haben müssen. Ganz besonders nachteilig erwies sich, dass es ohne obrigkeitlichen Schutz, den er vergebens nachsuchte, nicht möglich war, die Kinder zum Bleiben in der Anstalt zu bewegen; die meisten gingen, nachdem sie sich eine Zeitlang in ihr hatten verköstigen und verpflegen lassen, ohne Dank davon. So konnte die Absicht, dass die Anstalt sich durch die Arbeit der Zöglinge selbst erhalte, natürlich nicht erreicht werden. Aus allen diesen Gründen war das Scheitern des Versuchs unvermeidlich. Mit der äußersten Anstrengung vermochte er ihn eine Reihe von Jahren hindurch fortzuführen; endlich aber, im Jahre 1780, musste er blutenden Herzens die Anstalt auflösen und stand nun da als ein gänzlich Gescheiterter.

       In mehreren kleinen Aufsätzen, die der warm für ihn interessierte Iselin in Basel in seiner Zeitschrift „Ephemeriden der Menschheit“ 1777 und 1778 zum Abdruck brachte, hat Pestalozzi seinen Plan ausführlich dargelegt und über die Ausführung berichtet. Als Kerngedanke tritt deutlich hervor: Der Arme muss für seine Lage erzogen werden. Seine Auferziehungsstube muss seiner künftigen Wohnstube so viel als möglich gleich sein, während die meisten öffentlichen Stiftungen hiervon gerade das Gegenteil zeigen. Die entscheidenden Fragen sind: 1. Kann die Arbeit der Armenkinder zu so hohem Ertrag gebracht werden, dass dadurch eine solche Anstalt sich selber zu erhalten imstande ist? und 2. Ist es ratsam, die Auferziehung des Armen dem Geiste der Industrie zu unterwerfen? Was wird die Verbindung von Gewerbsamkeit mit Erziehungsanstalten für einen Einfluss auf den späteren häuslichen Zustand der so erzogenen Armen, auf ihre Sittlichkeit, auf ihre körperliche Stärke und auf den Feldbau haben? Beide Fragen glaubt Pestalozzi schon auf Grund seiner unvollkommenen Versuche im günstigen Sinne beantworten zu können. Besonders erkennt er die Erziehung zur Industriearbeit als unumgänglich notwendig. Die Entwicklung zur Industrie ist einmal da und nicht mehr rückgängig zu machen. Der Arme trägt schon jetzt allen Schaden des Fabrikwesens, es gilt ihm jetzt auch den größten möglichen Gewinn davon zu verschaffen, nicht indem man ihn in die nächste beste Fabrik schickt, wo sie „in einer ungesunden Luft zu Maschinen gebraucht werden, wo sie von Pflicht und Sitten nichts hören, wo ihr Kopf, ihr Herz und ihr Körper gleich erdrückt oder wenigstens unentwickelt und ungebaut bleibt“, sondern indem man „den in der Fabrikindustrie liegenden größeren Abtrag der Verdienstfähigkeit des Menschen als Mittel zur Erzielung wahrer wirklicher Erziehungsanstalten, die den ganzen Bedürfnissen der Menschheit genügen“, benützt. Denn an sich ist der Mensch „unter allen Umständen und bei allen Arbeiten der Leitung zum Guten gleich fähig... Mit dem Herzen allein wird das Herz geleitet... Spinnen oder Grasen, Weben oder Pflügen, das wird an sich weder sittlich noch unsittlich machen...“ Die wesentliche Voraussetzung ist nur, dass der Gewinn nicht der einzige Endzweck der Industrie, sondern nur das Mittel zu dem wahren Endzweck der Erziehung ist.

Grafik 33

      Robert Owen – 1771 – 1858

       – Es ist fast derselbe Gedankengang, durch den ein Menschenalter später der hochsinnige Sozialist Robert Owen zu einem auf solideren wirtschaftlichen Grundlagen unternommenen Versuch in ähnlicher Richtung geführt wurde. Im Unterricht der Pestalozzischen Anstalt stand ihrer ganzen Absicht gemäß die Handarbeit weit voran; Lesen, Schreiben, Rechnen wurde auch getrieben, doch glaubte er die Unterweisung darin wenigstens bis zum neunten Jahre hinausschieben zu dürfen. Die Art der sittlichen Unterweisung war „meistens nicht Unterricht des Lehrers“, sondern „teilnehmender Unterricht des Hausvaters, Ergreifung der immer vorfallenden Gelegenheiten, an denen er mit ihnen, sie mit ihm Anteil nahmen“. Rührend ist es, in den Berichten zu lesen, wie Pestalozzi auf die Individualität jedes einzelnen seiner Pflegebefohlenen eingeht, wie er an die verkommensten, elendesten, unbegabtesten bis zu den blödsinnigen herab unermüdliche Sorgfalt wendet und überglücklich ist, wenn er nur eine Spur von Fortschritt bemerkt. „Ich lebte“, sagt er später über diese Zeit, „jahrelang im Kreise von mehr als fünfzig Bettlerkindern, teilte in Armut mit ihnen mein Brot, lebte selbst wie ein Bettler, um zu lernen, Bettler wie Menschen leben zu machen“.

      Das Scheitern des hochsinnig geplanten Unternehmens musste ihn noch ungleich schwerer treffen als sein erster, bloß persönlicher Misserfolg. Zwar sein Glaube an das, was er gewollt, hat keinen Augenblick gewankt. Aber bei der Welt fand er keinen Glauben mehr. „Andern will er helfen und kann sich selber nicht helfen“: Diesen ewigen Spott der Weltklugheit über die selbstvergessene Liebe bekam er wie oft zu hören. Auch seine besten Freunde glaubten, ihm sei einmal nicht zu helfen; sie hielten für ausgemacht, er werde seine Tage im Spital oder gar im Narrenhause beschließen müssen. Der einzige Iselin hielt treu zu ihm und überzeugte ihn, dass „in wichtigen Dingen mutvolle Efforts, auch wenn sie für einmal nicht zum Ziele führen, dennoch entferntere gute Folgen ihrer Natur nach haben müssen“. Auch find die „entfernteren guten Folgen“ nicht ausgeblieben; es sind namentlich die sogenannten Wehrlischulen in der Schweiz indirekt aus Pestalozzis Anregung hervorgegangen, welche eben das zu verwirklichen suchen, was er mit seiner Anstalt gewollt hatte.

      Seinen Landsitz vermochte er nur dadurch sich zu erhalten, dass er den größeren Teil des Gutes an Verwandte verkaufte, um von dem Erlös seine Gläubiger wenigstens teilweise zu befriedigen. Den ihm verbliebenen Rest gab er in Pacht, bis sein Sohn die Bewirtschaftung übernehmen konnte. Sein zerrüttetes Hauswesen wieder in Ordnung zu bringen, war ein ausgezeichnetes Mädchen, Elisabeth Näf („die Lisabeth“) ihm behilflich, das um diese Zeit aus freien Stücken als einfache Magd in sein Haus kam und allmählich ganz mit der Pestalozzischen Familie verwuchs. Sie ist das Urbild der „Gertrud“ des Pestalozzischen Romans. Später nahm sich ein anderer Baseler Freund, Felix Battier, seiner wirtschaftlichen Lage sachkundig an. Seitdem war wenigstens die eigentliche Not überwunden, und so konnte Pestalozzi sich während der 18 Jahre seiner unfreiwilligen Muße (1780–1798) schriftstellerischen Arbeiten ungestört widmen.

      * * *

      Die „Abendstunde“

       Die „Abendstunde“

       Er hatte bei seinem verunglückten Versuch Unermessliches gelernt. Vor allem war eine gründliche Kenntnis des Volkes in seinem Elend und seiner nur tief vergrabenen Kraft, aber auch der Mittel und Wege, wie ihm geholfen werden könnte, ihm wie von selbst zugefallen. Das alles musste sich aussprechen, und sobald er nur die Feder ansetzte, strömte ihm der Stoff von selbst zu. So entstanden in kurzer Frist (von Nebenarbeiten abgesehen) zwei hochbedeutende Schriften: Die „Abendstunde“ und das Volksbuch „Lienhard und Gertrud“.

       Die „Abendstunde eines Einsiedlers“ erschien in den Ephemeriden, Mai 1780; eine Art Monolog in gedankentiefen, schwer gefassten Aphorismen, in denen er sich über die Bestimmung des Menschen und die Grundgesetze seiner Bildung klar zu werden sucht. In voller Bestimmtheit tritt schon hier der Kerngedanke hervor, dass allein „im Innern der Natur“ des Menschen der Grund derjenigen Wahrheit liegt, die er braucht, die zu seiner rechten Bildung ihm not ist. Aus dieser ersten Voraussetzung folgt die Allgemeinheit der Bildung in dem doppelten Sinne: dass die Grundkraft der Bildung an sich in allen dieselbe ist, und dass sie nach Möglichkeit in allen zu ihrer gesunden Entwicklung gebracht werden muss. Daraus folgt weiter – was schon Rousseau betont hatte – die notwendige Unterordnung der Berufsbildung unter die allgemeine Menschenbildung. Diese ist schon in der „Abendstunde“ und überhaupt in allen Dokumenten aus dieser Zeit so klar ausgesprochen, dass es als ein vollständiger Irrtum bezeichnet werden muss, Pestalozzi habe in seiner ersten Periode überhaupt nur an die Berufsbildung der untersten Klasse, und erst seit Stanz und Burgdorf an allgemeine, „humane“ Bildung gedacht. – Der zweite Hauptfaktor der menschlichen Bildung ist die „Lage“ des Menschen, die „Verhältnisse“ oder „Umstände“, in denen er sich findet. Sie sind das vorzüglichste Mittel der Entfaltung der im Menschen selbst schlummernden Kräfte. Zwar erweist sich die äußere Lage des Menschen, so wie er sie vorfindet, der gesunden Entwicklung seiner Anlagen mindestens ebenso oft hinderlich als förderlich; aber es steht an sich in seiner Macht, sie sich so zu gestalten, dass sie zu seiner Bildung förderlich wird. Die Not selbst wird ihm zum

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