Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe. Peter Urban

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Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe - Peter Urban

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tropfte ihm über das Kinn und auf seinen leeren Teller. Zehn Steingutflaschen voller Apfelbrand erschienen mit den beiden Mägden.

      „Jetzt wollen wir erst einmal sehen, ob der Schnaps hier oben im Norden den Calvados aus den Kellern von Alençon wert ist“, schmunzelte der langhaarige Barbar mit dem Sigillenreif und nickte Herzog Jean am gegenüberliegenden Ende der Tafel freundlich zu. Der Herr von Alençon lief vom vielen Wein bereits feuerrot an. Die Korken wurden herausgerissen und die Flaschen machten die Runde. Die goldfarbene, stark duftende und hochprozentige Flüssigkeit brannte den Männern in den Kehlen und stieg ihnen geradewegs in die schon von Wein oder Bier vernebelten Köpfe.

      Gilles grinste breit, als Arzhur de Richemont der Magd mit den prallen Brüsten und dem engen Mieder den Arm um die Hüfte schlang. Das Mädchen lief genauso rot an, wie der betrunkene Alençon nur wenige Zeit zuvor, als der Bruder des Herzogs der Bretagne ihr ins Ohr flüsterte. Es dauerte nicht lange und die beiden waren sich offenbar über den nächtlichen Zeitvertreib einig, denn Richemont verschwand bemerkenswert aufrecht und offenbar vom Alkohol unberührt mit dem Mädchen. Douarnenez sah den beiden anzüglich grinsend nach, bevor er die letzte volle Schnapsbrandflasche zu sich zog und öffnete. Gilles war gespannt wie ein Bogen. Er hatte die längste Zeit des Abends damit zugebracht, den Träger des Sigillenreif zu beobachten. Der Langhaarige hatte viel getrunken: Zuerst in schneller Folge ein paar Krüge Bier gegen den Durst. Dann Wein. Der Schnaps würde ihm vielleicht den Rest geben.

      In der Tat fiel dem Barbaren aus Cornouailles der Kopf auf die Arme, als er die Apfelbrand-Flasche mit dem Ellbogen wegschob. Niemand an der großen Tafel war mehr in einem Zustand Widerstand zu leisten. Die ganze Gesellschaft unter Ausschluss des bretonischen Herzogsbruders, der es vorgezogen hatte, sich für die Nacht das pralle Weib in sein Bett zu nehmen, hing wie ein Haufen nasser Säcke am Tisch. Schnarchen übertönte den Rest des Lärms aus den anderen Räumen der Taverne.

      Das Kind verharrte noch eine Weile unbeweglich in seinem Versteck. Die meisten Kerzen waren erloschen; nur das Feuer im Kamin spendete ein trübes Licht. Gilles ließ sich auf die Knie fallen und kroch unter die Tafel. Anstelle seiner schmucken Kleider trug er in dieser Nacht nur eine bequeme Hose aus Hirschleder und eine kurze, dunkelbraune Tunika, die ihm Bewegungsfreiheit gewährte. Wie eine Katze, schlich er auf allen vieren zwischen den ausgestreckten Beinen der Betrunkenen vom unteren Ende hinauf in Richtung auf sein Opfer. Doch genau in dem Augenblick, in dem er am Ziel seiner Wünsche angekommen war und auftauchte, packte ihn eine kräftige Pranke hart am Kragen und zog ihn hoch.

      „Ein kleiner Dieb“, zischte ein sehr nüchterner Arzhur de Richemont dem jungen Laval ins schreckensbleiche Gesicht. Neben dem Bruder des bretonischen Herzogs stand die pralle Magd mit einer großen Holzschüssel, aus der es nach warmem, süßem Grießbrei duftete. Gilles bekam vor lauter Schreck den Mund nicht auf. Er hatte nach Richemonts plötzlichem Abgang damit gerechnet, dass der Kerl sich wollüstig mit dem Weib in einem Bett wälzen würde. Doch der bretonische Ritter stand hoch aufgerichtet vor ihm, war stocknüchtern und hielt ihn fest. Seine sonst so gutmütigen blauen Augen funkelten dunkel und zornig.

      „Einem Dieb schlägt man die Hand ab, Bürschlein“, zischte Richemont gefährlich. Gilles spürte seinen heißen Atem im Nacken und alle Haare standen ihm zu Berg. In seinem Magen krampfte es sich zusammen, so als ob ihm jeden Augenblick vor Angst übel werden würde. Die pralle Magd hatte inzwischen den Grießbrei auf den Tisch gestellt und stemmte die kräftigen Arme entrüstet in die Hüften.

      Das Letzte, was Gilles de Laval sah, war Richemonts geballte Faust. Er spürte weder das warme Blut, das aus seiner Nase über sein Gesicht und seine Tunika rann, noch den eisigen Nachtwind vor der Taverne im Schmutz der Gosse.

      II

      Sévran de Carnac rutschte leise vor sich hin fluchend die Böschung hinunter. Der Silberfluss tobte durch die Steine hindurch auf eine kleine Stromschnelle zu. Weiße Gischt spritzte ihm kalt ins Gesicht. Endlich fanden seine glatten Ledersohlen einen vernünftigen Halt auf einem flachen Stein mit rauer Oberfläche. Er betrachtete aufmerksam einen weiteren flachen Stein mitten im Fluss. Mit etwas Geschick würde er soweit springen können und wäre dann mit einem zweiten Satz auf der anderen Seite und bei den Schwertlilien die Aodrén unbedingt haben wollte.

      Der Knabe vergewisserte sich, dass der kurze Dolch sicher in seinem Gürtel steckte. Dann fixierte er sein Ziel. Der Stein war moosbewachsen und gewiss glitschig, doch Sévran, der schmal und zierlich war, wie ein Mädchen wusste, dass er das Gleichgewicht einer Katze besaß. Geschmeidig ging er in die Knie und stützte sich nach der Landung nur ganz kurz mit den Händen ab, bevor er erneut sprang. Mit wenigen Stichen des breiten, kurzen Dolches hatte er die Schwertlilienwurzeln freigelegt. Er verstaute seine Beute in einem Lederbeutel, den er am Gürtel trug, und machte sich auf den Rückweg. Es würde nicht mehr lange dauern und die Nacht würde sich über den Wald von Uhel Koad legen. Ihm war kalt, er war müde und hungrig und er wollte so schnell wie möglich zurück nach Hause zu seiner Mutter und an ein wärmendes Feuer.

      Auf die gleiche Weise, wie Sévran zuvor gekommen war, überquerte er hüpfend und balancierend den Silberfluss in entgegengesetzter Richtung, ohne auch nur ein einziges Mal ins Wasser auszugleiten. Dann kletterte er behände die steile Böschung hoch und rannte zu der Stelle, an der er Aodrén mit seinen Pony Finn zurückgelassen hatte. Doch anstatt den alten Mann und sein Reittier zu finden, fand er nur einen einsamen Waldpfad, der links und rechts von hohen Laubbäumen eingesäumt wurde.

      „Aodrén! Ollamh“, rief das Kind, während seine schwarzen Augen die Umgebung absuchten. Die einzige Antwort, die Sévran erhielt war das leise Rauschen der Blätter im Herbstwind. Der Pfad lag im Dunkeln, denn die hohen Bäume versperrten dem letzten Tageslicht den Weg in den Uhel Koad. Kurz überlegte der Knabe, ob er sich nicht mit der Stelle geirrt haben konnte. Er rannte den Pfad entlang, zurück in die Richtung, aus der er vermutete, dass sie gekommen waren, bevor der alte Mann die Schwertlilien entdeckt hatte. Doch auch dort war keine Menschenseele zu entdecken. Schnell senkte sich die Nacht über den Wald. Der Wind wurde kälter und das leise Rauschen der Bäume verwandelte sich in der Einsamkeit und Dämmerung in ein unheimliches Brummen.

      „Aodrén! Bitte, Meister, zeigt Euch“, schrie das Kind nun so laut es konnte, “wo seid Ihr?“

      Sévrans Herzschlag wurde schneller. Als er den Pfad zurückgelaufen war, hatte er festgestellt, dass er diesen Weg überhaupt nicht kannte. Während Aodrén ihm die Geschichte vom Hermelin und König Conan erzählt hatte, mussten sie vom üblichen Rückweg nach Rusquec abgebogen sein. Er konnte sich nicht daran erinnern, je hier geritten zu sein. Er hatte plötzlich das Gefühl, das der dunkle Wald um ihn herum Augen besaß. Er fühlte sich mutterseelenallein und trotzdem beobachtet. Aber es war nicht sein alter Mann.

      Aodrén hätte gewiss auf sein verzweifeltes Rufen geantwortet. Sévran strengte seine Ohren an, doch da schnaubten nirgendwo zwei Pferde und keine eisenbeschlagenen Hufe zertraten das bunte Herbstlaub auf dem weichen Waldboden. Er fühlte nur ein stummes Augenpaar, das ihn beobachtete.

      Vom ersten Schreck den alten Mann und die Pferde verloren zu haben, hatte der Knabe sich inzwischen erholt. Er atmete ein paar Mal tief durch, um seinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen, dann lies er sich mit geschlossenen Augen auf die Knie sinken. Der Wald war sein Freund. Die Bäume sprachen zu ihm, wenn er nur still genug war, um ihnen zuzuhören. Die Augen, die ihn durch die Dämmerung beobachteten bargen keine Gefahr. Er spürte nichts Schreckliches an diesem Ort. Sein Atem ging ganz flach, sein Herz schlug sanft und regelmäßig. Alles, was der Knabe jetzt noch fühlte, war der Wind der über seine Wangen strich.

      Sévran wusste nicht mehr, wie lange er mit geschlossenen Augen auf dem weichen, feuchten Waldboden gekniet hatte. Die Augen, die er zuvor noch in den Bäumen versteckt gespürt hatte, fixierten ihn nun direkt.

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