Anne und die Horde. Ines Langel
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Sie drehte und wand ihren Körper nach allen Seiten, die Kette löste sich keinen Millimeter. Ein verzweifelter Blick nach oben zeigte ihr, wie tief sie schon gesunken war. Und doch ging es immer noch abwärts. Es wurde dunkel. Große Wasserpflanzen berührten ihr Gesicht.
Luft!
Hätte sie doch die Heinzelmännchen gesehen, die um sie herum schwammen, jeden Augenblick bereit, sie zu retten. Das hätte ihr wieder Mut geben können. Doch sie nahm nichts mehr wahr. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie hatte keine Kraft mehr, sich gegen das Unvermeidliche aufzubäumen.
Ich werde sterben.
Ihr Mund öffnete sich wie von selbst. Wasser drang ein. Sie schluckte es hinunter. Immer mehr Wasser füllte ihren Körper. Sie ließ es geschehen. Die Sinne drohten ihr zu schwinden. Mit einem letzten lautlosen Seufzer verabschiedete sie sich von der Welt und…. atmete. Sie riss die Augen auf. Sie fasste es nicht. Sie spannte sämtliche Gesichtsmuskeln an und…. atmete, atmete ein, atmete aus, ein, aus, ein, aus. Sie fühlte, wie die Luft in die Lungenflügel einströmte, als wären diese nicht mit Wasser gefüllt. Unbegreiflich, sie saß auf dem trüben Grunde des Sees und atmete. Ein Stein fiel ihr vom Herzen. Und auch der, welcher sie in die Tiefe gezogen hatte, ließ sich plötzlich ganz einfach abstreifen. Kaum seiner ledig, trieb es sie nach oben, ganz ohne ihr Zutun. Sie wollte noch gar nicht auftauchen, sondern erst mal ihre neue Fähigkeit ausprobieren. Sie machte Tauchbewegungen, um dem Auftrieb zu entkommen, doch es ging nicht. So wie der Stein sie nach unten gezogen hatte, so zog sie nun etwas Unbekanntes nach oben, etwas, das in ihrem Körper sein musste.
Als ihr Kopf die Oberfläche des Wassers durchstieß, ging ein Aufatmen durch die Reihen der Heinzel. Und dann geschah etwas Unglaubliches: Nicht nur Annes Kopf, ihr ganzer Körper kam, ja stieg förmlich aus dem Wasser. Mit Händen und Knien stützte sich Anne auf die Wasseroberfläche, als wäre diese ein fester Untergrund. Entgeistert starrte sie nach unten. Sie versuchte, eine Hand bis zum Ellbogen in das Wasser zu drücken. Es gelang ihr nur mit größter Mühe, obwohl sich das Wasser ganz normal anfühlte. Da begriff sie, nicht das Wasser hatte sich verändert, sondern etwas an ihr hatte sich verändert. Anne begann sich vorsichtig zu erheben. Es machte ihr keine Mühe, auf dem Wasser zu stehen. Sie fror in ihrer nassen Kleidung. Und kaum war ihr das bewusst geworden, begann sie zu dampfen, genauer gesagt, das Wasser verdampfte. Es dauerte nicht lange, da waren ihre Kleider, ihre Haut und die Haare vollständig getrocknet. Nichts deutete mehr daraufhin, dass sie noch vor kurzem auf dem Grund des Sees gesessen hatte.
Verwirrt, ohne zu wissen, was sie tat, schritt Anne langsam, mit tastenden Schritten über das Wasser, dem Ufer entgegen. Unter den Heinzeln war es totenstill geworden. Alle starrten gebannt auf sie, bis Zucker mit jubelnder Stimme rief: „Hurrah, hurrah, sie ist eine Hexe. In diesem Augenblick brach ein unbeschreiblicher Jubel los.
Leben als Hexe
Eine Hexe zu werden war wesentlich einfacher als eine Hexe zu sein. Anne fing an, sich daran zu gewöhnen, dass sie zwar immer noch ein ganz normales Mädchen war und doch eine andere sein sollte. Manchmal fragte sie sich, worin ihr Anderssein denn nun eigentlich bestand. Es bestand jedenfalls nicht darin, sofort über magische Fähigkeiten zu verfügen, also hexen zu können. Zum Beispiel konnte sie ihren Bruder nicht in einen Frosch verwandeln, wie sie anfangs gehofft hatte.
Mürrisch warf sie Swontje einen Blick über den Esstisch zu. Mama hatte Bratkartoffeln und gebackenen Fisch auf den Tisch gebracht. Die ganze Familie Kolbe saß einträchtig beieinander und genoss das letzte gemeinsame Mittagessen, bevor Papa nach seinem Urlaub wieder arbeiten gehen musste. Swontje erzählte von den Arbeitsgemeinschaften, die er in seiner neuen Schule belegen wollte. Die Eltern hörten wohlgefällig zu.
„Du solltest auf jeden Fall den Programmierkurs belegen“, sagte Papa gerade. „Ohne Computer geht heute gar nichts mehr.“
Missmutig stach Anne mit der Gabel auf die Kartoffelscheiben ein. Eigentlich liebte sie Bratkartoffeln, doch das Geschwätz über Swontje und seine neue Schule ging ihr auf die Nerven. Sie hatte andere Dinge im Kopf. Am liebsten wäre sie allein gewesen, um in Ruhe über alles nachdenken zu können, zum Beispiel darüber, wie sie eine andere Hexe finden sollte. Denn nur mit Hilfe eines anderen magisch befähigten Wesens konnte es ihr gelingen, ihre eigenen Hexenfähigkeiten zu entfalten. Anne schob sich ein großes Stück Fisch in den Mund.
„Willst du noch was Senfsoße?“, fragte Mama sie.
Anne schüttelte den Kopf.
„Es gibt auch eine Schulband“, sagte Swontje. „Da könnte ich vielleicht mit meinem Keyboard einsteigen.“
Mama zuckte zusammen. „Meinst du, dass du das alles neben deinen Hausaufgaben schaffst?“
Einen Augenblick hörte Anne zu. Sie musste grinsen, weil sie wusste, wie sehr Mama litt, wenn Swontje auf seinem Keybord und ihren Nerven spielte.
„Mama hat recht“, sagte Papa, „warte erst mal ab. Du musst dir nicht gleich so viel aufladen.“
Anne überließ sich wieder ihren eigenen Gedanken. Leider hatte ihr Zucker auch nicht sagen können, wo sie eine andere Hexe fand, um sich Rat und Hilfe zu holen. Einiges wusste sie ja schon. Sie wusste, dass Hexen über eigene magische Begabungen verfügen, jede auf ihre Weise. Jede Hexe muss herausfinden, wo ihre eigene Begabung liegt und lernen, diese anzuwenden. Und auch das wusste Anne: Jedes magische Wesen muss sich hüten, einem Magus in die Fänge zu fallen. Diese Magi geben keine Ruhe, bis sie herausbekommen haben, wie sie einer Hexe oder einem anderen magischen Wesen die Kräfte aussaugen können. Ihr Wissen darüber halten sie in geheimen Büchern fest. Und in Geheimbünden oder auf Alchemistentreffen tauschen sie ihre dunklen Gedanken und bösen Absichten aus. Man müsste an ihre Bücher rankommen und diese zerstören, dann wäre ihr Wissen darüber, wie man magische Kräfte absorbiert, ein für allemal vernichtet. Leider halten sie ihre Geheimbücher sorgfältig versteckt – vielleicht in einem Buchladen unter tausend anderen Büchern. Als Anne an Merymend dachte, bekam sie einen gewaltigen Schreck. Sie musste auf der Hut sein. Hatte dieser Finsterling nicht längst gerochen, dass sie eine Hexe war? Was würde er mit ihr anstellen, wenn sie ihm in die Hände fiel? Würde er mit ihr Experimente machen wie früher die Alchemisten?
„Papa?“, sagte sie plötzlich.
Papa sah zu ihr herüber. „Ja, Schatz?“
„Du bist doch Chemiker.“
„Interessierst du dich neuerdings für meinen Beruf?“
„Nicht für deinen. Für den deiner Vorgänger. Die Alchemisten waren doch deine Vorgänger.“
„Ja, kann man sagen.“
„Was weißt du von Alchemisten?“
„Na ja“, sagte Papa. „Alchemisten waren früher gelehrte Männer. Sie taten etwas ganz ähnliches wie wir Chemiker heute. Sie mischten verschiedene Dinge ineinander oder trennten sie voneinander.“
„Und warum machten sie das?“
Papa überlegte einen Augenblick. „Das kommt ganz darauf an. Im Mittelalter kam man zu der Erkenntnis, dass Stoffe miteinander reagieren und zu etwas anderem werden können. Das war ein recht neuer Gedanke. Die Alchemisten dachten, dass nun alles möglich sei. So dachten sie beispielsweise, dass sich Blei in Gold verwandeln lässt oder dass sich eine Medizin herstellen lässt, die ewiges Leben ermöglicht.“
Anne