Amerikas Helden. Klaus Werner Hennig
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Die Schwarzfahrerin
Im allerletzten Moment, bevor sich die Türen schlossen, sind am vorderen und hinteren Perron blaugrau uniformiert ein Mann und eine Frau zugestiegen. Niemanden auslassend, arbeiten sich die Kontrolleure, vom Jagdfieber auf Schwarzfahrer getrieben, beidseitig durchs Gewühl zur Mitte hin. Ihr Job, den Bus bis zum nächsten Halt zu durchkämmen. Keiner darf ihnen entwischen. Sie kennen sämtliche Ausreden und Tricks. Die Fahrpreise sind hoch – ja, das sind sie – aber Schwarzfahren kommt wesentlich teurer.
Ein winziges Persönchen wuselt zur Mitte, trachtet zu entkommen. Aussichtsloses Unterfangen. Die nächste Haltestelle zu weit, die Kontrolleure zu routiniert. Unscheinbar, zwischen ihren Plastiktüten, kauert sie sich auf den Boden hin. Verräterisch strahlt der wirre, schlohweiße Haarschopf der alten Frau. Von hinten und vorne umzingelt, in die Zange genommen, begrüßen die Beamten sie wie eine alte Bekannte. Die Frau erhebt sich, lächelt versonnen, als ginge sie hier alles nichts an. Auf das stereotype „den Fahrschein bitte zur Kontrolle“, streicht sie über ihr Haar, hält eine Hand ans Ohr, verzieht fragend den Mund, stößt unvermittelt hervor: „Schönes Wetter heute, nicht wahr?“ Die Fahrgäste um sie herum schauen schadenfroh zu. Pech gehabt, Madam. Jeder ist sich selbst der Nächste, mit sich selbst zufrieden, so es ihn nicht erwischt hat.
Gertrude Fingerlein, sechsundachtzig Jahre, Rentnerin, hat Zeit ihres Lebens geschuftet, zog sich selber die Hosen an, arbeitete, so man ihr Arbeit gab, packte an, half jedem, der sie darum bat, war stets Kumpel, Kamerad, stand ihren Mann, landete in einer Putzkolonne, beim Malochen ging sie hurtig voran, buckelte sich ab. Müßiggang kannte sie nicht. Trotzdem, ihre Altersrente heute ist gottesjämmerlich: fünfhundertsechzig Euro monatlich, dreihundertfünfzig die Miete, einhundertzwanzig für Gas, Wasser, Heizung und Licht, da bleiben knapp neunzig zum Leben. Wie der Bischof von Limburg, so verschwenderisch wie ein Kirchenfürst, kann sie das Geld nicht ausgeben. Mit ihren sechsundachtzig geht sie noch putzen, drei Euro fünfzig pro Stunde bar auf die Hand, es ist eine Schande, und von dem bisschen knappst sie für ihren Jungen, der sie mitunter besucht, noch ab. Beim Sozialamt die karge Rente aufstocken lassen, käme Gertrude Fingerlein nicht in den Sinn. Nein, in ein Altersheim sperrt sie niemand ein. Lieber lebte sie wie ein Hund auf der Straße.
Selbstverständlich sammelt sie Pfandflaschen aus Abfalleimern, stibitzt Essbares vom Kaufmarkt, wenn sie Hunger hat: Mundraub werde nicht bestraft, das habe schon ihre Großmutter gesagt. Steht doch in der Bibel: Wenn du in den Weinberg eines andern kommst, darfst du so viel Trauben essen, wie du magst, bis du satt bist, nur darfst du nichts in ein Gefäß tun. Aber in Deutschland sieht die Rechtslage anders aus, da wird Ladenraub auf Strafantrag verfolgt, selbst wenn es einen hungert, und er flink alles verschlingt. Aus Prinzip fährt Gertrude Fingerlein schwarz, um zu ihren Putzstellen zu gelangen. Sie verkörpere nicht mal die halbe Portion Lebendgewicht anderer und soll den vollen Fahrpreis zahlen? Die paar Pimperlinge, die sie sich mit Putzen mühselig verdient, kann sie dafür nicht verschwenden. Am Monatsende versorgt sie sich zuweilen von der Tafel, anfangs furchtbar blamabel, mit der Zeit empfindet sie nichts Schlimmes mehr dabei. Ich bin ein Mensch, allerdings alt, aber noch bin ich frei, möchte hingehen, wohin ich will, teilhaben am Leben!
Gesund ist Gertrude Fingerlein, nur dann und wann hat sie´s ein wenig im Kreuz, dann beißt sie die Zähne, die sie auch noch hat, zusammen, aber ansonsten ist sie nahezu fit, selbst im Kopf – zwar eigensinnig, aber klar. Das kleine Einmaleins beherrscht sie so gut wie das große sogar. Ohne einen Taschenrechner zu benützen, oder es sich an den Fingern abzählen zu müssen, verblüfft sie die Kassiererinnen, weil sie den zu zahlenden Betrag schon kennt, bevor die Kasse die Summe nennt. Natürlich ist sie altersgerecht vergesslich, aber bei Geiste nicht dement.
Die Kontrolleure halten sie umzingelt, werden sie nicht entwischen lassen. Die Situation wird langsam peinlich. Die zierliche, alte Frau, reinlich gekleidet, Perlenkette um den Hals, von zwei satt genährten Vampiren bedrängt. Ein junges Fräulein, blaugrau gefärbtes Haar, mit Augenbrauenstift Altersfalten ins Gesicht gemalt, an Nase und Mund metallisch gepierct, mischt sich ein, zückt ihre Geldbörse und erklärt sich bereit, den Fahrpreis für die alte Frau zu entrichten.
„Sie könnte meine Urgroßmutter sein“, sagt sie im Brustton der Überzeugung. Ein Gemurmel hebt an: Darf man mit alten Leuten derartig verfahren?
„Die Frau ist stadtbekannt“, betont der Kontrolleur mit sonorer Stimme. „Schwarzfahren erfüllt den Straftatbestand der Beförderungserschleichung. Deswegen stand diese Frau vor Gericht, verurteilt wegen viermaligen Schwarzfahrens. Die Geldstrafe, vierhundert Euro, hat sie nicht bezahlt, obschon Ratenzahlung vereinbart worden war. Sie musste ersatzweise ins Gefängnis!“
„Das ist nicht wahr!“, ruft Gertrude Fingerlein mit sich überschlagendem Stimmchen empört.
„Und ob, in den Frauenknast Gelsenkirchen überführt.“
„Aber nein, die Bildzeitung hat mich ausgelöst, die Summe voll gezahlt, mich fotografiert, auf die Titelseite platziert. Der Chefarzt vom Justizkrankenhaus Fröndenberg hat attestiert, ich bin kerngesund und geistig völlig normal.“
Beifall kommt auf. Der Autobus hält an. Die Kontrollbeamten zerren Frau Fingerlein am Arm, steigen mit ihr aus. Einige Fahrgäste auch, darunter die gepiercte junge Frau. Die blüht regelrecht auf wie Jeanne d´Arc auf den Schlachtfeldern an der Loire. Mutig ruft sie aus: „Das grenzt an Freiheitsberaubung!“ Eine ganz Vornehme aus der besserverdienenden Mittelschicht zischt ihr ins Gesicht: „Obdachloses Gesindel, sperrt es ein und Sie freches Luder gleich mit hinterdrein!“ Ein älterer Herr steht abseits und brabbelt, bei Reisen in die Zone nur habe er so etwas erlebt.
Neugierige Passanten gesellen sich zu, auch ein Gruppe Studenten, Kommilitonen der jungen Frau. Die Kontrolleurin telefoniert mit der Polizei. Ein junger Heißsporn will ihr das Handy entreißen. Sie erklärt, um Sachlichkeit bemüht: „Diese Frau ist notorische Schwarzfahrerin. Wegen erneuter Delikte dieser Art ist sie mehrmals zum Gerichtstermin nicht erschienen, abgetaucht, wird mit Haftbefehl gesucht. Bleiben Sie vernünftig bis zum Eintreffen der Polizei.“
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, doziert professoral einer der Studenten. „Die alte Dame steht unter unserem persönlichen Schutz!“ Und locker, eins, zwei, drei, bevor angelangt ist die Polizei, schnappen die Studiosi die Pacheidel der Gertrude Fingerlein und sind mit ihr im Straßengewühl entschwunden.
Sie schleusen sie in ihre WG nach Wuppertal. Ein Schlafplatz für die hochbetagte Dame findet sich allemal. Am Abend gibt es zur Begrüßung ein Fest. Oma Gerti hat Erbsensuppe mit Speck gekocht. Hm, die schmeckt. Sie lassen sie hochleben bis weit nach Mitternacht. Am nächsten Tag hat die alte Frau die ganze Bude gründlich saubergemacht, auch die Fenster geputzt, die Türen abgeseift, die Betten frisch bezogen.
Die Studenten erörtern den Fall Fingerlein im Seminar mit ihrem Professor für Rechtsphilosophie. Der Prof wiegt sein Haupt, gibt zu bedenken: „Der Straftatbestand der Beförderungserschleichung nach § 265a StGB zwar gegeben, trotzdem, ein Geschmäckle bleibt dabei. Ersatzweise Haftstrafe gegen eine fast neunzigjährige Frau zu verhängen: kleinkrämerisch buchstabengetreue Rechthaberei.“
„Nur was können wir tun?“, fragen die Studenten.
„Frau Fingerlein sollte sich umgehend im Landgericht zum Termin stellen. Ihre Verteidigung will ich übernehmen“, bemerkt der Professor bescheiden. Er weiß, das gibt einen Promotion-Effekt sondergleichen. Demnächst wird der neue Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät gewählt. Schließlich ist Gertrude Fingerlein als Schwarzfahrerin bundesweit bekannt. Sogar im Fernsehen wurde sie gezeigt und ihr Name genannt.
Oma Gerti nahm die Botschaft verhalten