Korridorium – magische Abenteuer. Cory d'Or
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Auch an dieser Legende ist also etwas Wahres dran. Doch nun werfen sogar meine letzten Getreuen das Handtuch und machen kehrt – offenbar nicht mit der Geduld und Hartnäckigkeit eines Vögelchens aus Hinterpommern gesegnet, das alle hundert Jahre einmal mit dem Schnabel kurz ins Eisen pickt. Nur ich, als Letzter der Schatzsucher, setze ich mich mit verschränkten Armen vor das nackte Metall. Jetzt bin ich schon so weit gekommen. Da schreckt mich auch nicht mehr, warten zu müssen, selbst wenn es ein Weilchen dauern sollte.
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23.1.12
Ich betrete den Korridor, um die richtige Tür zu finden: die Tür, die mich zurückbringt ins »Schneckenhaus«. Schneckenhaus, so nannten wir die verzwirbelte Magnetkammer, die uns unser Supercomputer berechnet hatte. Nach zwei Jahren Bauzeit zusammen mit meinen Studenten war die Kammer fast fertig: ein seltsam verdrehtes und in sich selbst zurückgefaltetes Gebilde aus schimmerndem Metall mit hunderten aufgesetzten Magneten, die verhindern sollen, dass die in der Vakuumkammer erzeugte Materie mit irgendetwas in Berührung kommt. Wie die Magnetkammer da so im großen Laborraum hing, sah sie aus wie ein Kunstwerk aus einer anderen Welt. Fast überirdisch schön, aber auch erschreckend fremdartig, so, als dürfe es diese Form eigentlich gar nicht geben.
Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll: Das Schneckenhaus übte eine immer stärker werdende Faszination auf mich aus. Schließlich redete ich mir ein, ich müsse vor dem Versiegeln der Kammer unbedingt noch die Schweißnähte überprüfen, und kroch eines Nachts heimlich hinein.
Aber nicht wieder hinaus.
Stattdessen sitze ich in der Trieste. Als Kind hatte mir dieser Weltrekord unheimlich imponiert. Ich erkenne die Tauchkapsel sofort, die Beschreibungen müssen sich mir damals tief eingegraben haben. Auch Piccard erkenne ich, und damit weiß ich auch, in wessen Kopf ich stecke und mit wessen Augen ich das alles sehe: mit denen seines Mitreisenden Don Walsh – ich bin mit Jacques Piccard unterwegs zu einem der tiefsten Punkte der Weltmeere im Marianengraben.
Es ist eng, stickig, die Metallhülle ächzt schwer unter dem ungeheuren Außendruck. Das Wasser, in das Scheinwerfer hineinstrahlen, wirkt trüb. Ein Universum aus undurchdringlicher Schwärze umgibt uns.
Ich bin ein Geist und hocke in Walshs Kopf. Walsh scheint davon nichts zu merken. Ich drifte immer wieder weg, als wäre ich ein Fremdkörper, der nicht hierhergehört – was ja irgendwie auch stimmt. Das Erlebnis erreicht mich wie ein Sender, der immer wieder mal stark verrauscht ist. Und dann branden mich auch immer wieder Kopfschmerzen an, was seltsam ist, weil ich doch eigentlich gar keinen eigenen Kopf mehr habe. Walsh scheint von dem Geist und den Schmerzen in seinem Kopf nichts mitzubekommen.
Piccard erklärt mir in schlechtem Englisch, dass wir hier unten auch sterben könnten, wenn wir auf einem Wrack aufsetzen, uns verfangen und nicht mehr zurück an die Oberfläche steigen können. Doch wir landen weich. Ein Plattfisch vor unserem winzigen Fenster fühlt sich gestört, wühlt sich aus dem Schlick und schwimmt davon. Hier unten gibt es Leben. In ewiger Dunkelheit und mit der Last von fast elf Kilometern Wasser darüber! Piccard schreibt in sein Logbuch. Dann klinken wir unseren Ballast aus und beginnen wieder zu steigen.
Ich verstehe das alles nicht. Wie bin ich hierhergeraten? Wie kann ich plötzlich in einer anderen Zeit landen, im Kopf eines Fremden?
Ist es ein Traum, oder bin ich vielleicht in Wahrheit tot, im Schneckenhaus erstickt? Aber hat man Kopfschmerzen und Aussetzer, wenn man tot ist? Es fällt mir nicht leicht, klare Gedanken zu fassen, doch ich glaube, dass das alles nur in meinem Bewusstsein stattfindet. Ich bin kein Zeitreisender, sondern ein Geistreisender. Und irgendwie muss ich versuchen, den Weg zurück ins Schneckenhaus zu finden, in die Magnetkammer, deren verschlungene Form, wie sie nur die Mathematik und ein leistungsstarker Computer erschaffen können, mich in die Trieste geschickt hat. Ich muss zurück!
Wir tauchen auf. Es gibt Champagner, um die Rekordfahrt zu feiern. Walsh muss dringend auf die Toilette. Er entschuldigt sich, betritt im Mutterschiff einen Korridor – und plötzlich wirble ich fort von ihm, haltlos, kopfüber, zersprengt in unzählige Splitter, die sich aber wie magnetische Teilchen wieder zusammenfinden – doch nicht etwa im Schneckenhaus, sondern in einer anderen Zeit, im Kopf eines anderen Menschen, einer weiteren Kindheitsfaszination …
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16.2.12
Ich betrete den Korridor – wobei nicht ich es bin, dessen Körper den Gang betritt, sondern ein Fremder, in dessen Geist ich unbemerkt sitze –, erleichtert, dass endlich die Zeit gekommen ist, ihn zu verlassen. Diesmal war es Peter Aufschnaiter, der – nach einer dramatischen Flucht – zusammen mit Heinrich Harrer am 15. Januar 1946 die tibetische Hauptstadt Lhasa erreicht hatte und dort in den folgenden Jahren ein Wasserkraftwerk und Kanalisationsanlagen anlegte.
Es ist immer ein Korridor oder ein Gang oder ein Tunnel, der mich aus einem Kopf hinaus- und in einen anderen hineinführt. Irgendwie muss diese Art der Geistreise mit dem »Schneckenhaus« zu tun haben, dieser verschlungenen metallenen Struktur, die viel Rechenzeit an den Hochleistungsrechnern der Uni verschlungen hat – und schließlich auch mich. Ich hätte nie hineinkriechen sollen.
Seitdem reise ich körperlos durch die Zeit. Es ist wie ein Traum, der immer wieder blass und undeutlich wird, und ständig plagen mich diese Kopfschmerzen – ein Seinszustand, für den der Mensch nicht geschaffen ist. Es ist etwas Unnatürliches mit mir geschehen. Ich bin gefangen in fremden Körpern, fremden Zeiten, an fremden Orten – nur dass ich fast immer sofort weiß, wo ich bin.
Ob ich mit Marie Curie im Labor stehe, mit Frederick Catherwood die Mayametropole Uxmal dokumentiere, mit Thor Heyerdahl auf der Kon-Tiki einen Sturm überstehe oder mit Amundsen den Südpol erreiche: Stets sind es die Helden meiner Kindheit und ihre Sternstunden, die meine geheimnisvolle Reiseroute bestimmen.
Immer verweilt mein Geist solange im Kopf eines Begleiters meiner Kindheitshelden – und das sind manchmal Wochen oder gar Monate! –, bis sie einen Gang oder etwas Ähnliches betreten. Ein Türrahmen genügt nicht. Der Gang muss offenbar eine gewisse Länge besitzen. Es ist dann so, als verlöre ich den Halt. Ich schwanke, schleudere, wirble, um mich dann abrupt im Kopf eines anderen Menschen wiederzufinden.
Immer wieder drifte ich weg, und auch das Erinnern an früher fällt mir schwer: Was gab es da noch für Helden meiner Kindheit? Dinos! Wie so viele in jungen Jahren war ich von Dinosauriern fasziniert. Manchmal beschleicht mich die Angst, dass mich meine Reise auch in diese ferne Vergangenheit führen könnte: Was wird sein, wenn ich an einen Ort gerate, in ein Leben gerate, in dem es keine Gänge, Flure und Tunnels gibt? Ist meine Reise dort zu Ende? Bin ich endlich richtig tot, wenn derjenige stirbt, in dessen Kopf ich hocke und mit dessen Augen ich sehe? Oder gelange ich dann zurück ins »Schneckenhaus« und erwache dort aus unbeherrschbaren, verschlungenen Kindheitsträumen?
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18.3.12
Ich betrete den Korridor des Puppenhauses, um zur Küche zu gelangen. Die Utensilien dort sind lächerlich überproportioniert, doch ich will nicht gänzlich verrohen und mir mein Essen, statt es mir einfach ins Maul zu schaufeln, so weit es mir möglich ist zubereiten. Wenn ich schon wie unzivilisierter Waldmensch aussehe, möchte ich wenigstens innerlich und in meinen Alltagshandlungen eine gewisse Würde bewahren.
Denn seit