Lotus im Wind. Norman Dark

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Gäste wandelten auf einem Gartenpfad, namens roji, der die erste Stufe der Erleuchtung symbolisierte. Mit dem Abstreifen des Alltags sollte man sich auf die folgende Teezeremonie vorbereiten. Anschließend nahmen die Gäste in einem Warteraum Platz und wurden vom Gastgeber oder der Geisha mit heißem Wasser begrüßt, dasselbe das später zur Bereitung des Tees verwendet wurde. Dann gingen sie auf den Gartenpfad zurück, um auf einer Wartebank in einem offenen Pavillon, dem sogenannten machiai Platz zu nehmen. Derweil füllte der Gastgeber frisches Wasser in ein Wasserbassin aus Stein, legte eine Schöpfkelle bereit und verschwand wortlos im Teeraum. Jeder reinigte sich nun Mund und Hände, um Übles, das gesagt oder getan worden war, symbolisch abzuwaschen. Dann betraten sie nacheinander den Teeraum - chashitsu, in den man durch einen nur knapp einen Meter hohen Kriech-Eingang - nijiriguchi gelangte. Bei Nichtvorhandensein eines Kriech-Eingangs wie im ryōtei ließen sich die Gäste beim Betreten des Raumes auf die Knie nieder, um Demut und Respekt zu zeigen und gesellschaftliche Unterschiede an der Schwelle abzulegen. Es folgten mehrere Gänge - kaiseki leichter Speisen, Suppen, sauer eingelegtes Gemüse und Reis, zu denen sake - Reiswein gereicht wurde.

      Emi glühte vor Aufregung und bemühte sich, nicht über Gebühr aufzufallen. Ein vergebliches Unter-fangen, denn trotz ihrer noch kindlichen Züge konnte man erkennen, dass da eine Schönheit heranwuchs. Das bemerkten die männlichen Gäste sofort und schenkten ihr bewundernde Blicke. In ihrer bescheidenen Art war sie nicht eingebildet, aber es kam eine leise Ahnung in ihr auf, dass sie eines Tages mehr Aufmerksamkeit als Takara bekommen würde, vielleicht sogar mehr als die Gheishas Sakura und Himawari.

      Sakura war eine kluge und charmante Gesprächspartnerin, wie Emi fand. Sie wirkte interessiert an ihrem Gegenüber, drängte sich aber nicht mit allzu sehr ins Detail gehende Fragen auf. Sie war eine wahre Meisterin der Konversation und beherrschte die Regeln der Etikette einwandfrei. So bewahrte sie selbst Haltung, wenn einer der Kunden etwas anzüglich wurde. Emi war es nicht erlaubt, sich am Gespräch zu beteiligen und selbst Takara übte sich in Zurückhaltung, hing aber förmlich an den Lippen von Sakura. Zum ersten Mal konnte Emi nachvollziehen, woher die Bewunderung für Sakura stammte, denn die Geisha verhielt sich in der Öffentlichkeit so ganz anders als in der okiya. Bei Himawari war der Unterschied nicht so groß, aber trotzdem musste Emi anerkennen, dass auch sie ihre Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit erfüllte. Ihr feines Lächeln, ihre anmutigen Bewegungen und vor allem ihre gepflegte Konversation ließen vergessen, dass Sakura sie an Schönheit übertraf.

      Nach dem kaiseki gingen die Gäste erneut in den Warteraum, bis sie nach fünfmaligem Ertönen eines Gongs in den Raum, der für die Teezeremonie vorgesehen war, zurückgebeten wurden. Der letzte Gast schloss die Tür mit einem leisen Geräusch, das Zeichen für die Geisha mit den Vorbereitungen zu beginnen. Erst jetzt trug sie die noch fehlenden Teeutensilien in den Teeraum, wo sie nach einem bestimmten Muster angeordnet wurden, um praktische und harmonische Bewegungsabläufe zu ermöglichen.

      Bei der Teezeremonie waren beide Geishas gleich geschickt, wie Emi fand. Im Verlauf des Abends war sie sehr erstaunt, dass es zwischen Himawari und Sakura eine Art Aufgabenteilung gab, denn während Sakura tanzte, sang Himawari und spielte shamisen, tanzte selbst aber nicht. Auch wunderte Emi sich, dass die Geishas keinen Bissen zu sich nahmen. Von Takara erfuhr sie dann später, dass es einer maiko oder Geisha bei Banketten nicht erlaubt sei, am Essen teilzunehmen, da sie ausschließlich der Unterhaltung der Gäste dienten. Einzige Ausnahme war, wenn eine Geisha durch einen Kunden in ein Restaurant eingeladen wurde. Weiterhin klärte Takara Emi darüber auf, dass es zwei Arten von Geishas gab - tachikata und jikata genannt. Dabei war die tachikata die ausgebildete Tänzerin, beherrschte aber daneben auch das shamisen, die hayashi-Flöte und die tsutsumi-Handtrommel. Auch sie hatte einst ihr Debüt als maiko, konzentrierte sich aber unter Umständen darauf, eines dieser Instrumente meisterhaft zu spielen, wenn sie eine nicht so begabte Tänzerin war. Wohingegen eine jikata eine verkürzte Ausbildung genossen, ihr Debüt erst im fortgeschrittenen Alter gehabt hatte und nicht wie eine tachikata besonders schön sein musste. Takara vermutete, dass es bei Himawari nicht zu einer tachikata gereicht hatte und sie in Wahrheit „nur“ eine jikata war. Aber darüber dürfe Emi niemals ein Wort verlieren, beschwor sie Takara, um nicht selbst in Teufels Küche zu kommen oder der Freundin eine Menge Ärger einzuhandeln.

      Yumiko saß mit Mayumi in ihrer Küche, um gemein-sam zu frühstücken. Dass es schon später Mittag war, störte keine von beiden, da sie jeden Abend noch aktiv waren, wenn andere Leute sich schon zur Ruhe begaben.

      »Du siehst müde aus«, sagte Mayumi, »was hast du gestern Abend gemacht, dich ins Nachtleben gestürzt?«

      »So in etwa. Mein Kollege Haruko hat mich ins minami-za eingeladen, und da er mit einem der Dar-steller befreundet ist, sind wir anschließend zusammen essen gegangen.«

      »Dann ist dein Kollege also schwul?«

      »Wie kommst du darauf?«

      »Na, ich zähle eins und eins zusammen. Im minami-za Theater wird doch kabuki gespielt, bei dem die Frauenrollen von Männern verkörpert werden, also denke ich, wer auf der Bühne die Frau ist, wird es auch im Privatleben sein. Und wenn Haruka mit ihm befreundet ist…«

      »Wie schön, dass du keine Vorurteile hast. Ich kann mir kaum vorstellen, dass alle kabuki-Darsteller schwul sind. Haruko ist es jedenfalls nicht, und sein Freund Ikuo gewiss auch nicht, denn er hat mit mir geflirtet.«

      »Dann verstehe ich nicht, warum du so ein Gesicht machst. Ist dir das Essen nicht bekommen?«

      »Eher das, was danach kam. Genauer gesagt das, was mich hier erwartet hat. Ich habe an deinem Schlafzimmerfenster eine Geisha gesehen.«

      »Wir leben hier am Rande eines der berühmtesten Geisha-Viertels, Schatz. Was hast du erwartet, einen Samurai?«

      »Nein, aber vielleicht kommt das auch noch. Außerdem habe ich die Geisha nicht vor deinem Fenster gesehen, dann hätte sie schon auf sehr hohen Stelzen gehen müssen, da du ja oben wohnst, sondern innen, an deinem Fenster.«

      »Moment mal, sie war in meinem Schlafzimmer? Wie ist sie da reingekommen? Und was wolltest du eigentlich da? Mein Bett vorwärmen?«

      »Ich wollte mir das Buch zurückholen, das ich dir geliehen hatte. Da sah ich sie stehen, und sie hat mir Grauen eingeflößt, weil sie ziemlich tot aussah. Ihre Augen wirkten gebrochen und ihr Körper war vor Schmerzen gekrümmt. Zwischen ihren vor die Brust gepressten Händen sickerte Blut hervor.«

      »Also, wenn sie bereits tot war, wie du an den gebrochenen Augen festgestellt haben willst, kann sie nicht mehr geblutet und schon gar nicht sich vor Schmerzen gekrümmt haben. Was ist mit ihr geschehen? Hast du den Rettungsdienst gerufen?«

      »Das war nicht nötig, denn als ich mich halbwegs von meinem Schreck erholt hatte, war sie verschwunden.«

      »Ach, deshalb habe ich keine Blutflecke vor meinem Bett gefunden. Es war also nur ein Geist, der dich heimgesucht hat.«

      »Oder dich, sie war in deinem Zimmer, nicht in meinem.«

      »Dann sind Geister also ziemlich dumm, sonst hätte sie wissen müssen, dass ich normalerweise zur Geisterstunde außer Haus bin, um meiner Arbeit nachzugehen.«

      »Warum musst du immer alles ins Lächerliche ziehen, was ich dir erzähle? Ich fand die Angelegenheit gar nicht komisch. So langsam bekomme ich Beklemmungen in diesem Haus.«

      »Jetzt sei nicht ungerecht. Ich mache höchstens hin und wieder einen Witz über deine paranormalen Erlebnisse, damit auch du das alles nicht so ernst nimmst. Deshalb mache ich mich aber noch lange

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