Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt. Frans Diether

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Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt - Frans Diether

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es gibt keinen Krieg, es gibt keine traurigen Mütter, es gibt keine Kinder ohne Väter, es gibt keine Angst unter den Menschen. Doch Gis Gedanken gingen weiter. Wenn man kein Tier tötet, gibt es keine Angst mehr unter den Tieren, können sie mit den Menschen leben, können alle voneinander lernen. Es waren die Gedanken eines Kindes, die Gis bewegten. Es waren seltene Gedanken.

      "Es wird ihm früh genug vergehen", sagte Gis Mutter und dachte an die Grausamkeit der Welt, in der es für Träumer keinen Platz gab. Nein, ihr Sohn sollte kein Träumer bleiben. Er sollte ein aufrechter Sachse, würdiger Nachkomme seines kriegerischen Vaters werden. Dafür würde sie sorgen, trotz aller Gefahr, die das mit sich brachte.

      Als Gis im zwölften Jahr heranwuchs, schien es seiner Mutter endgültig überfällig, sich der alten Sitten zu erinnern, nach denen ein Junge normalerweise schon im zehnten Sommer zum Erwachsenen wurde. Sie musste die Erinnerung nicht lange hervorsuchen. So traurig ihr Gesicht, so stolz war ihr Herz, ihr sächsisches, Freya geweihtes, nur von einem Menschen, von Gis Vater erobertes Herz. Was sprach dagegen, den alten Göttern zu huldigen, bevor es für den Jungen zu spät, er zu tief in den christlichen Glauben verstrickt war? Seit zwei Jahren suchte Adalbert sie nicht auf. Seit vier Jahren ließen sich keine Franken blicken. Was für ein Risiko sollte es denn sein, die alten Bräuche erneut zu leben, im Kleinen nur, nicht so, dass es bekannt würde?

      "Gis Zeit ist lange gekommen. Im nächsten Sommer soll er zum Manne werden. Er soll es nach unserem Brauch werden."

      Odomar staunte nicht schlecht bei den Worten der Schwiegertochter. Nicht nur der Inhalt, auch die Länge ihrer Rede war außergewöhnlich, sagte sie doch oft für Wochen nichts. Auch zeigte ihr sonst so trauriges Gesicht ein kurzes Lächeln als Ausdruck ihrer Anteilnahme und des allzu lang unterdrückten Strebens nach Glück.

      "Dein Wunsch ist kühn, tollkühn sogar. Ich möchte ihn lebensgefährlich nennen. Es steht der Frau meines Sohnes gut an, einen solchen Wunsch zu äußern." Odomar erhob sich, sprach mit feierlicher Stimme. "Ich werde mit den Alten darüber reden und besonders mit Sindolf, der trotz Taufe und äußerlicher Bekehrung die alten Riten und sein Herz als Schamane bewahrte.

      Warm strichen die Strahlen der Abendsonne über die kleine sächsische Siedlung, deren letztes Gehöft das Ufer der Eems, die die Alten noch Tamesis nannten, erreichte, weit bevor diese in das große Meer mündete, doch immer noch nah genug, die Gezeiten zu spüren. Rotgoldene Schimmer überzogen die im sanften Wind schaukelnden Blätter der knochigen alten Weiden. Wie Schiffchen schaukelten sie, wie die Schiffe der Sachsen, mit denen diese das große Meer befuhren, fremdes Land erreichten und eroberten. Lang war das her. Doch es lebte fort in den Männern und Frauen am Ufer, in ihren mit magischen Symbolen geschmückten, im Kreis am Flussufer stehenden Körpern, in ihrem leisen Gesang, im Emporschnellen ihrer zuckenden Hände, in ihren auf den einen gerichteten Blicken. Sindolf, der Schamane, hatte die alte Wolfsmaske aus dem tiefen, weder von frömmelnden noch von kriegerischen Blicken entdeckten Versteck genommen, sie auf seinen Kopf und sich selbst ins Zentrum des Kreises gesetzt.

      "Öffnet unseren Kreis, dass wir einen neuen Mann darin aufnehmen", rief er, sich langsam erhebend, während die Umstehenden eine Öffnung hin zum Fluss freimachten.

      Ein gellender Schrei entfuhr Sindolfs Kehle, ein Schrei, der bis Walhall zu hören sein musste, zumindest aber bis zum gegenüberliegenden Ufer, von dem aus sich Gis in das klare Wasser stürzte, seinen Körper zu reinigen und die Kindheit abzuwaschen. Er verstand nicht recht, warum er diese Zeremonie durchlaufen sollte, wo doch die anderen Kinder durch heilige christlicher Feier ins Reich der Erwachsenen geführt wurden. Es lag wohl daran, dass Vater Adalbert so lange abwesend blieb, ihn keiner ersetzen konnte, man daher auf frühere Bräuche zurückgreifen musste. Die Mutter und der Großvater hatten gesagt, er sei etwas ganz Besonderes und es wäre eine große Ehre, am alten Kult teilzuhaben. Sie sagten auch, dass er mit niemandem außerhalb des Dorfes und vor allem nicht mit Adalbert darüber sprechen durfte. Und da Gis trotz aller Eigenheiten ein folgsames Kind war, versuchte er, der gestellten Anforderung bestmöglich gerecht zu werden, und durchquerte die kalte Strömung mit kräftigen Zügen. Tropfend erklomm er das grasbewachsene Ufer. Sein langes blondes Haar klebte an der sonnengebräunten, lediglich im Bereich der Scham von einem ledernen Schurz bedeckten Haut. Seine Zehen krallten sich in den Grund. Stark wollte er scheinen und ohne Stolpern in die Mitte des Kreises gelangen, der sich alsbald hinter ihm schloss. Heftig atmete er, jetzt noch Kind, voll der Erregung und voll der Erwartung. Er kniete nieder vor Sindolf, dem Mittler zwischen Mensch und Göttern. Er wusste, dass er sich bald aus der Kinderzeit erheben, Teil der erwachsenen Welt werden würde. Sindolf umkreiste ihn, Beschwörungsformeln flossen über seine rissigen Lippen. Wie lange durfte er die Götter nicht anrufen. Wie lange musste er ihrer schweigend gedenken. Er hatte das Wissen bewahrt. Die letzten Tage zeigten ihm, dass er damit nicht allein war. Er war auch nicht allein im Wissen um die Gefahr. Doch die Götter liebten die Mutigen. Und was sollte schon passieren? Im Dorf gab es keine Verräter. Die christlichen Missionare, die fränkischen Krieger und Beamten schienen den abseits gelegenen Weiler vergessen zu haben, begnügten sich mit der regelmäßigen Steuer- und Abgabenzahlung. Sindolf schalt sich. Was schweiften seine Gedanken ab. Er sollte sich allein auf die Götter konzentrieren und auf diesen Jungen, diese schlanke erwartungsvoll auf ihn blickende Gestalt. Er hob die Arme, bedeutete Gis aufzustehen, griff unter fortgesetzt geflüsterten Beschwörungen in seine Tasche mit den drei Farben blau, schwarz und rot. Er bemalte den jungen Körper mit alten magischen Motiven, die Kraft, Mut, Ausdauer, Scharfsinn, Weisheit bedeuteten. In dem Moment, in dem der feurige Sonnenball ins Meer der Ewigkeit eintauchte, der Himmel sich blutrot färbte, brachte er das letzte Zeichen an. Es hieß Liebe. Dann begann er zu singen und der ganze Kreis der Umstehenden fiel ein. Er fasste Gis an beiden Händen. Gleich würde er ihn in die Reihe der Erwachsenen führen. In diesem Moment schoss eine Feuersäule aus der Mitte des Dorfes.

      Schreiend liefen die Sachsen zu ihren Hütten, zu ihren Waffen, zu ihren Pferden. Nur wenige erreichten ihr Ziel. Als Erster fiel Sindolf, getroffen von einem brennenden Pfeil, als er sich schützend über Gis beugte.

      "Lauf", rief Gis Mutter noch, während sie sich dem anstürmenden Schwertreiter entgegenwarf, das kalte Metall empfing und doch dem Sohn eine kurze Chance zur Flucht verschaffte. Gis lief, lief noch schneller als die Tränen, die, seinen Blick bis fast zur Blindheit trübend, aus seinen Augen quollen. Ein Onkel kam bereits zurück aus der Hütte, den Bogen bereits in der Hand. Bevor er noch den ersten Pfeil auflegen konnte, durchschlug ein Speer sein Brustbein. Im Fallen streckte er den Arm in Gis Richtung, die Waffe dem zum Manne Gewordenen entgegen. Rasch griff dieser danach und auch nach den Pfeilen, spannte die Sehne, suchte ein Ziel, fand es in Form eines Schwertkämpfers, der heftig mit Odomar rang, die Überhand zu gewinnen drohte. Gis Auge wurde eins mit der Spitze des Pfeils. Er musste es tun, konnte nur so den Großvater retten.

      "Du sollst nicht töten."

      Die Worte kamen aus dem Dunkel. Gis Hand zitterte. Gis bekam keine Luft mehr. Eine Schlinge zog sich immer fester um seine bemalte Brust. Der Pfeil flatterte ins Gebüsch. Odomar fiel. Gis hatte versagt. Der Frankenkrieger, dessen Schlinge ihn gleich darauf fesselte, lachte breit.

      "Was haben wir denn da für ein buntes Püppchen", amüsierte er sich über die Bemalung, welche vom Schein des brennenden Dorfes beleuchtet wurde.

      "Die Quelle des ganzen Übels", sprach erneut die Stimme aus dem Dunkel. Gis kannte sie. Oft genug hatte er sie predigen hören. Oft genug hatte er von ihr auch Nützliches, hatte er Lesen und Schreiben von ihr und ihrem Besitzer gelernt. Es war Adalberts Stimme. Gehüllt in sein Mönchsgewand trat der Missionar vor Gis.

      "Du verrietst den Heiland. Du und die deinen, ihr fielet vom rechten Glauben ab. Ihr habt euer Leben verwirkt, alle." Adalbert sprach nicht laut, sprach eher traurig. Es bedrückte ihn, dass seine Schafe den Geist so wenig aufgenommen, so schnell den Herrn und Schöpfer vergessen hatten. Noch mehr bedrückte ihn, dass er durch seine lange Abwesenheit das Spiel des Verderbers so leicht gemacht hatte.

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