Unglück. Iris Wandering

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Unglück - Iris Wandering

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eine vorangegangene Fremdeinwirkung schließen ließe.

      Jetzt sagt Anna ihrem Kollegen, dass sie die Mobilnummer weitergegeben hat, weil sie einen wichtigen Anruf erwartet. Sie möchte erreichbar sein, nicht nur dienstlich. Glücklicherweise ist Max schon durch gewesen. Er ist kurz vorher noch durchgekommen. Max ist sicher in Hamburg!

      Über das Handy, das Sprechfunkgerät und das Autoradio gelangen weitere Informationen zu ihnen. Beispielsweise, dass der Katastrophenalarm aufgehoben wird und eine erste Lagebesprechung mit allen Leitern angesetzt ist. Hierbei wird sicherlich auch über die Brücke und die Wagons gesprochen werden, überlegt Anna. Etwa zweihundert Meter Zug wurden auf dreißig bis vierzig Meter Bodenfläche zusammengefaltet. Das muss erstmal zerlegt werden, ehe der Transport stattfinden kann. Der Autounfall auf der Brücke, der zu dem Unfall geführt haben soll, wurde von der Polizei noch nicht bestätigt. Wie denn auch, bei den vielen Trümmern, die da aufgetürmt liegen. Der Zwischenstand von etwa sechzig Toten und ungefähr zweihundert Verletzten macht zusammen mit der fortgeschrittenen Uhrzeit nicht wirklich Hoffnung auf weitere positive Funde.

      Vereinzelt sehen Anna und ihr Kollege auf und neben der Strecke Kleinteile. Sie finden auch Kratzer auf den Schwellen vor. Je weiter sie sich dem eigentlichen Unfall nähern, umso auffälliger und zahlreicher werden die Spuren. Die Polizei hat ihre eigenen Leute, aber Anna kennt sich besser aus und könnte das ein oder andere entdecken, was zur Aufklärung beiträgt. Beim Anblick der Gleise wird die enorme Kraft deutlich, die hier gewirkt hat: Vom hinteren Triebkopfende bis zur Brücke ist das gesamte Nebengleis zerstört, die Schienen sind herausgerissen.

      Anna und ihr Dienstkollege kehren wieder zum Bahnhof und den anderen Kollegen zurück. Einen angebotenen Kaffee lehnt sie dankend ab und füllt ihre Wasserflasche auf.

      Sie will sich auf ihre Notizen konzentrieren, um die Eindrücke später den Fotos zuordnen zu können. Dann erhält sie die Anordnung, zurück zur Brücke zu kommen. Anna nimmt das Telefon und ruft ihre eigene Nummer in Hamburg an. Kein Durchkommen, das Netz ist überlastet. Aber sie versucht es immer wieder und schließlich kann sie Max eine Nachricht aufs Band sprechen, dass sie tatsächlich länger bleiben muss. Dass die Arbeiten noch bis mindestens Freitag, wenn nicht sogar Samstag andauern werden. Eigentlich müsste er den Zettel mit ihrer Nachricht doch schon gefunden haben. Nachdenklich legt Anna auf. Sie hätte seine Stimme jetzt so gut brauchen können.

      Die von der Staatsanwaltschaft angeordneten Obduktionen rücken alles in die Nähe eines Krimis, an dem Anna nicht unmittelbar beteiligt ist, an dessen Auflösung sie aber mitarbeitet. Als sie wenig später eine Lieferung von Toilettenhäuschen beobachten kann, wird damit auch ein Teil Normalität gebracht. Denn auch während einer Katastrophe gibt es ganz schlichte irdische Bedürfnisse.

      Kurz danach werden die Leuchtmittel gebracht, die für die Weiterführung der Arbeit in der Nacht sorgen. Mittlerweile sind es über tausend Helfer, und bisher wurden fünfundsiebzig Tote und circa fünfunddreißig Schwerverletzte gezählt. Für weitere Blutspender wird eine Verkehrsregelung notwendig. Der Abtransport der Leichen wird durch Begleitfahrzeuge gesichert. Das sind beinahe neutrale Informationen in einem Regelwerk aus Arbeit. Informationen zum Ablauf machen aus diesem Chaos eine halbwegs überschaubare Angelegenheit.

      1998, Erich Preuß, «Eschede, 10 Uhr 59», Seite 23

      «Noch am Tag des Unfalls werden die Servicemitarbeiter auf den Bahnhöfen und in den Zügen gebeten, ‹ab morgen als Zeichen ihres Mitgefühls und ihres Respekts vor den Toten einen Trauerflor zu tragen.› Die Großbildleinwände in den Bahnhöfen senden bis auf weiteres kein Unterhaltungsprogramm.»

      Mittwoch, 3. Juni 1998, Terminersuchen

      Herr Ade ist für ein paar Tage in sein Refugium an der Nordsee gefahren, um aufzutanken. Und da er aus terminlichen Gründen seine Reise im Mai nicht antreten konnte, nutzt er die ersten Junitage dafür.

      Frau Zett ist gerade im Begriff das Büro zu verlassen, als sie noch das letzte Telefonat für diesen Tag annimmt. Kaum hat sie die Bitte um einen raschen Termin aufgenommen, stellt sie zunächst einmal dem Kunden gegenüber klar, dass Professor Ade nicht vor Ort sei. Und der Anrufer es ihr überlassen müsse in Erfahrung zu bringen, ob Professor Ade Zeit habe.

      Mittwoch, 3. Juni 1998, Ohne Verbindung

      Für ein paar Stunden darf sich Anna zurückziehen. Bei Tageslicht wird das geborgene Material weiter gesichtet und dokumentiert werden müssen.

      Ihr ist es mittlerweile egal wo sie schläft. Die Hotelzimmer sind belegt. Als Anna kurz nach Mitternacht ins Bett einer Pension in der Nähe sinkt, ist sie nur noch irritiert, dass sie Max nicht erreicht hat. Dann wird er wohl unterwegs sein oder bei Nina oder vielleicht ist er auch nach Hause zurückgefahren, als er die Nachrichten gehört hat? Dass sie noch hier bleiben muss, versteht er doch sicherlich, oder? Aber so spät noch in seinem Elternhaus anzurufen traut sie sich nicht. Das kann sie morgen bei Tag machen.

      Donnerstag, 4. Juni 1998, Ansichtssache

      Sehr früh am Morgen – beinahe noch nachts – hält es Mini nicht mehr aus. Ein Name der eingelieferten Unfallopfer klingt dem ihres großen Bruders Max sehr ähnlich. Nein, die Hotline hat nur diesen einen Namen, keine weiteren kommen für die Geschwister bisher in Betracht. Nach kurzer Absprache mit ihrer großen Schwester, die irgendwie in ihrer Wohnung festzukleben scheint, fährt Mini mit ein paar Freunden des Bruders in die Stadt, in der dieser Mann liegen soll, während Mutter und Vater vorerst jeder bei sich zu Hause bleiben, wo sich ein paar Freunde um sie kümmern.

      Die Haarfarbe stimmt, aber der Rest?

       Seltsam.

      Vielleicht will Mini sich nicht sicher sein, denkt Silvia bei sich, als sie deren Beschreibungen am Telefon hört. Weil das dort alles so schrecklich aussieht? Wie muss die große Schwester ihrer kleinen Schwester die Fragen stellen, ohne mit direkten Worten Unaussprechliches zu benennen, um trotzdem etwas herauszubringen?

      «Die Narbe am Rücken könnte es sein, aber sicher bin ich mir nicht. Und seine Kleidung ist nicht da.» Mini hat den Mann bisher nur in Bauchlage gesehen und muss die Prozedur des Umlagerns abwarten.

      Silvia kann sich keine Vorstellung davon machen, wie es dort im Krankenhaus auf der Intensivstation zugeht und warum das Identifizieren so schwierig sein soll. Sie muss warten, bis die Vorderseite des dort liegenden Mannes zu sehen ist. Mittlerweile wird ihr aber klar, dass das Warten genauso sinnlos ist, wie das Fahren an den vielleicht falschen Ort.

       Was, wenn er doch nach Hamburg gebracht wurde?

      Vielleicht aber auch nicht. Wie hieß es doch? Die zuerst Versorgten wurden in die nahegelegenen Krankenhäuser gebracht, andere mussten teils auch wegen ihrer speziellen Verletzungen woanders hingebracht werden?

       Und hat nicht derjenige mehr Chancen, der zuerst gefunden und versorgt wird? Ist eine Namensähnlichkeit nicht möglicherweise ein Hinweis darauf, dass er noch sprechen kann oder zumindest irgendwann noch sprechen konnte?

      Silvia beschließt, nun doch ins Krankenhaus zu ihrer Schwester zu kommen. Adrian fährt. Ihre Freundin Jenny begleitet sie. Was für eine gute Freundin sie ist, weiß Silvia eigentlich noch gar nicht. Das Auto ist recht warm, obwohl es noch nicht mal Mittag ist. Die Sonne lugt fröhlich um

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