Dutzendgeschöpfe. Katia Weber

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Dutzendgeschöpfe - Katia Weber

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      Kurt machte auf dem Absatz kehrt und schlurfte durch den Flur ins Wohnzimmer. So alt hatte er noch nie gewirkt: Jeder Schritt schien ihm schwer zu fallen. Frau Schmidt folgte ihm zögernd.

      Was hatte er gefunden?

      Kurt machte nur zwei oder drei Schritte in den Raum hinein und blieb dann breitbeinig stehen. Er deutete mit einem ausgestreckten Arm auf den Esszimmertisch. Dort lag eine ganze Reihe von Büchern. Frau Schmidt begriff noch immer nicht. Erst, als sie näher an den Tisch herantrat, verstand sie, was Kurt gefunden hatte.

      „Warum hast du meine Kalender aus dem Schrank genommen“, fragte Frau Schmidt kalt, „An dem Schrank hast du nichts zu suchen.“

      „Nein, habe ich nicht. Und ich bin trotzdem dran gewesen“, erwiderte Kurt ebenso kalt.

      Frau Schmidt setzte sich auf einen der Esszimmerstühle und betrachtete die verschiedenen Bücherstapel, manche hoch, manche niedriger. Da lagen bestimmt 35 Jahreskalender, die allesamt unterschiedlich aussehen. Manche waren in Leder gebunden, andere waren mit selbst gebastelten Umschlägen versehen, auf denen Bienen, Blumen oder berühmte Gesichter abgebildet waren. Da war z. B. eine Schwarzweißaufnahme von Cary Grant. Das war 1959 oder 1960, schätzte Frau Schmidt. Sie hatte „Der unsichtbare Dritte“ geliebt. Der Kalender mit den Sonnenblumen war aus den 70ern. Sie zog einen Kalender mit einem roten Einband, der fast vor ihrer Nase lag, an sich heran. Auf der ersten Seite prangte eine große „1978“. Sie schlug das Büchlein auf und warf einen Blick auf den ersten Eintrag:

      „1.1.1978. Prosit Neujahr! Sind bei den Nachbarn gewesen. Ich mag sie nicht besonders, aber sie haben ein kleines Restaurant und Kurt bekommt manchmal Aufträge von ihnen. Hier mal einen Stuhl reparieren, da ein kaputtes Tischbein auswechseln. Wir haben uns über den Tod von Charlie Chaplin unterhalten. Ich hatte den ganzen Abend Bauchweh.“

      Frau Schmidt blätterte weiter.

      „13.3.1978. Ich habe „Deutschland im Herbst“ angeschaut. Kurt hatte keine Lust.“

      Frau Schmidt blätterte erneut weiter.

      „26.9.1978. Ich habe an dich denken müssen. Aber ich denke ja immer an dich.“

      Frau Schmidt klappte den Kalender zu und starrte einen Moment lang auf ihre Finger. Sie waren knochig und mit einer papierdünnen, aber weichen Haut überzogen. Auf den Nägeln hatten sich in den letzten zwei Jahren immer mehr Rillen gebildet. Vielleicht halfen Vitamine?

      Du schweifst ab, ermahnte sich Frau Schmidt.

      Sie drehte sich auf dem Stuhl leicht zur Seite und sah, dass Kurt jetzt direkt hinter ihr war. Er rührte sich nicht. Er stand einfach nur da, wie versteinert.

      „Was hast du da bloß gemacht?“, wollte Frau Schmidt wissen und warf Kurt einen misstrauischen Blick zu.

      Kurts Stimme klang heiser, so, als hätte er den ganzen Tag über geschrien. Ruhig erklärte er:

      „Zunächst habe ich mich auf die Suche nach deinem Ehering gemacht. Tja, da guckst du, was? Du denkst natürlich, ich hätte es nicht gemerkt, du denkst ja immer, ich würde nichts merken. Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, liebe Henriette. Du hast keinen Volltrottel geheiratet. Glaub es oder glaub es nicht, ich habe auch Gefühle und im Gegensatz zu dir liegt mir etwas an unserer Ehe.“

      Kurt begann, hinter Frau Schmidts Rücken schnell auf und ab zu gehen. Sie drehte sich wieder um und betrachtete die Kalender auf dem Tisch vor ihr. Lauter Mini-Tagebücher. Ein ganzes Leben, in wenigen Sätzen zusammengefasst.

      Mein Leben, dachte Frau Schmidt und hatte mit einem Mal das Bedürfnis, die Bücher in ihren Armen zu sammeln und aus diesem Zimmer zu tragen, damit ihr Mann, der sich wie ein Verrückter aufführte, sie nicht in seine Finger bekäme. Aber natürlich hatte er das schon längst getan.

      „Du hast nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich nicht deine erste Wahl war. Und ich gebe gern zu, dass ich dich nur genommen habe, weil es keine Alternativen gab. Aber ich hätte doch ein bisschen mehr Respekt von dir erwartet“, ereiferte sich Kurt.

      „Du blätterst durch meine Tagebücher und erzählst mir etwas von mangelndem Respekt?“, entfuhr es Frau Schmidt und sie warf ihm einen bitterbösen Blick über die Schulter hinweg zu.

      Kurt ließ sich nicht beirren.

      „Du verhöhnst und verspottest mich. Schon ein ganzes Leben lang.“

      „Was ist überhaupt in dich gefahren?“, schrie Frau Schmidt und erhob sich so schnell und unkontrolliert, dass ihr Stuhl umkippte.

      „Schlag den 10. Juli auf. In jedem einzelnen Band. Da steht es Schwarz auf Weiß. Da steht, dass du mich betrügst. Und dich selbst betrügst du noch viel länger. Fast dein ganzes Leben lang.“

      Frau Schmidt konnte nicht aufhören, Kurt voller Zorn und Abscheu anzublicken. Sie musste die Einträge in den Kalendern nicht nachlesen. Sie wusste nur allzu gut, was dort stand.

      In den ersten Jahren hatte sie Sätze wie „Es geht nicht ohne dich“ geschrieben, dann: „Es wird einfach nicht besser“ und schließlich: „Ich will niemand anderen lieben“. Der 10.7.1957 war der schlimmste Tag in Frau Schmidts Leben gewesen. An diesem Tag hatte es laut geknackt, ein Genick war entzwei gebrochen wie ein kleiner Hühnerknochen und mit ihm waren all ihre Träume gestorben, die romantischen Vorstellungen von der Zukunft eines 14-jährigen Mädchens, das sich Liebe wünschte. Einfach so. Manchmal dauerte es nur einen Wimpernschlag und schon war ein komplettes Leben kaputt.

      Frau Schmidts Mund war trocken.

      „Ich dachte, zwischen uns beiden hätte es eine Art Abkommen gegeben“, bemerkte sie tonlos.

      „Ein Abkommen? Was denn für ein Abkommen? Du hast nie mit mir geredet, nie!“

      Jetzt brüllte Kurt.

      „All die Jahre habe ich gegen einen Geist angekämpft! Natürlich kann ich es nicht mit einem Geist aufnehmen. Ich habe gedacht, du würdest schon irgendwann drüber hinwegkommen. Und dann wirfst du den Ehering fort und ich finde das da!“

      Kurt zeigte erneut auf die Kalender auf dem Esstisch.

      Frau Schmidt entgegnete:

      „Ich habe ihn nicht weggeworfen, ich habe ihn verloren.“

      „Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass das besser ist, oder?“, schrie Kurt.

      Frau Schmidt verstummte. Er hatte recht. Eigentlich war es sogar noch schlimmer.

      „Und was machen wir jetzt?“

      Kurt hob den umgefallenen Stuhl vom Boden auf und ging in den Flur hinaus, ohne Frau Schmidt anzusehen.

      „Nichts“, rief er im Hinausgehen, „genau wie all die Jahre zuvor.“

      Die Wohnungstür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss.

      Es dauerte eine Weile, bis Frau Schmidt wieder klar denken konnte. Zuerst hatte sie nur ein hohes Piepen in ihrem linken Ohr vernommen und gedacht, dass sie jeden Moment einen Hörsturz oder etwas Ähnliches erleiden würde. Aber nichts dergleichen geschah. Das Piepen wurde langsam leiser und verschwand schließlich ganz. Dann hatte sie sich einfach

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