China Blues. Norman Dark
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Einer dritten Version nach, die uns Kindern besonders gefiel, gab es in der Wüste des Nordens einen roten Drachen, mit dem Gesicht eines Menschen. Tag wurde es, wenn er die Augen öffnete, Nacht, wenn er sie schloss. Wind und Sturm entstanden durch seinen Atem, im Sommer hielt er den Atem an, im Winter blies er kalte Luft. Deshalb fürchteten und verehrten die Menschen diesen Wetterdrachen, da sie von ihm abhängig waren.
Nun, egal, ob Pangu schallend lachte, oder der Wetterdrache den Atem anhielt, der Sommer war in diesem Jahr jedenfalls unerträglich. Am Tag suchten alle ein schattiges Plätzchen, und in den kühleren Abendstunden riss man alle Fenster auf, um Durchzug entstehen zu lassen. Ich war froh, noch nicht für eine feste Nummer im Programm eingeplant zu sein, denn die Scheinwerfer im Zirkuszelt heizten die Luft noch mehr auf. Zwar übte ich beinahe täglich mit Wáng Jun, dem ehemaligen Partner meines Vaters, aber das spielte sich noch in niedriger Höhe ab. Der Zenit, die Trapezaufhängung in der Zirkuskuppel lag für mich noch in weiter Ferne, um jedes Risiko auszuschließen. Zwar wollte ich meinem bàba nacheifern, was das Können und den sensationellen Auftritt anging, aber keinesfalls durch einen ebenso tragischen Unfall enden.
Als ich mir außerhalb des Zeltes etwas Abkühlung verschaffte, hörte ich unfreiwillig eine Unterhaltung zwischen Li Ying und Li Bo mit. Beide waren miteinander verheiratet und traten gemeinsam mit einer Jongliernummer auf.
»Was war heute mit dir los?«, fragte Li Ying seine Frau, »ich habe dich selten so unkonzentriert erlebt. Um ein Haar hättest du die Nummer geschmissen, weil immer mehr Teller herunterzufallen drohten.«
»Ja, es tut mir leid. Ich musste immer an gestern Abend denken. Du hast doch auch die arme Jian Chan gesehen. Auch wenn ihre Erscheinung stets durch den Lichtkegel verblasste, war nicht zu übersehen, was sie am Hals trug, bestimmt kein Collier.«
»Das bildest du dir ein. Aus der Entfernung hättest du das gar nicht sehen können. Es ist nur das Wissen darum, was dich geängstigt hat.«
»Das musst du gerade sagen, deiner Beschreibung nach sah Jian Yan auch nicht gerade friedlich aus.«
»Das war dumm von mir, es dir gegenüber zu erwähnen, entschuldige. Ich habe mir doch tatsächlich für einen Moment eingebildet, dass sein Gesicht hassverzerrt war.«
»Glaubst du, er ist ein Dämon geworden, der anderen Übles will?«
»Nein, nicht wirklich, wahrscheinlich bin ich ebenso einer Sinnestäuschung erlegen wie du. Jedenfalls ist es gut, dass die Tore zum Jenseits wieder geschlossen sind. Jetzt haben wir wieder ein Jahr lang Ruhe, bis der nächste Zhongyuan kommt.«
»Ich will nur hoffen, dass die Geister der Verstorbenen das auch so sehen.«
Ich hatte genug gehört und lief schnell vom Wagen weg in eine andere Richtung. Was meinte Li Bo am Hals meiner Mutter gesehen zu haben, eine Art Ausschlag, die von ihrer Krankheit verursacht wurde? Noch mehr in Unruhe versetzte mich, was Li Ying über meinen Vater gesagt hatte. Das konnte doch gar nicht sein, dass sein liebes Gesicht durch Hass entstellt gewesen war. Und vor allem gegen wen? Er hatte sich doch immer mit allen gut verstanden und war äußerst beliebt gewesen. Die Li’s mussten sich beide getäuscht haben, wer weiß, wen oder was sie gesehen hatten, aber meine lieben Eltern waren es bestimmt nicht gewesen, versuchte ich mich zu beruhigen. Nur gelang es mir nur schwer, sodass sogar meine Träume davon beeinflusst wurden.
So hatte ich in der folgenden Nacht einen schrecklichen Albtraum. Ich sah meine liebe māma hoch oben am Trapez den Salto üben. Nur war die Sicherheitsleine nicht wie sonst an ihrer Taille befestigt, sondern um ihren Hals gelegt. Als māma das ihr entgegen schwingende Trapez verfehlte und abstürzte, zog sich die Leine derart fest um ihren Hals, dass sie keine Luft mehr bekam und wild mit Armen und Beinen strampelte. Ihre Augen schienen förmlich aus den Höhlen zu treten und ihre dick angeschwollene Zunge hing ihr seitlich aus dem Mund. Als man ihr endlich zu Hilfe kam und die Leine kappte, war es schon zu spät. Ihr Körper lag schlaff und leblos wie der einer Puppe im Sand der Manege. Nur hatten Puppen für gewöhnlich nicht so entstellte Gesichter, deshalb wollte ich auch nicht glauben, dass diese meine Mutter war, und schaute am ganzen Leib zitternd suchend zur Zirkuskuppel hinauf. Aber meine māma konnte ich dort nicht finden.
Ich wagte nicht, irgendjemand von diesem schrecklichen Traum zu erzählen. Schon deshalb nicht, um nicht erneut jede schaurige Einzelheit vor Augen zu haben. Aber fortan beschlich mich eine leise Ahnung, woran meine māma wirklich gestorben war. Aber keiner der Erwachsenen würde mir in meinem Alter diesen Verdacht bestätigen, begriff ich instinktiv. So unterließ ich es vorerst, weiter nachzufragen.
Trotz aller Bewunderung für die Trapezkunst meiner Pflegeeltern, für die zauberhaften Akrobatinnen, die auf Einrädern ihre Kunststücke vorführten, die unglaublich gelenkigen Schlangenmädchen, die Luftakrobaten, die meterhohe Türme aus Stühlen bauten, um darauf herumzuklettern, und die wagemutigen Bambusakrobaten, die es fertig brachten, auf zwei Stangen in luftiger Höhe einen Spagat zu machen, gehörten in jenen Kindertagen meine Liebe und Faszination besonders den Tieren, die mit uns reisten. Ob ihnen dabei auch eine artgerechte Haltung widerfuhr, dafür hatte ich als kleines Mädchen noch keinen Sinn, umso mehr begann ich in der Zeit der Pubertät, während der man ohnehin alles hinterfragte, daran zu zweifeln.
Allen voran liebte ich die Pferde. Dass mit dem Pferd die Geschichte des Zirkus begonnen habe und Pferdedarbietungen ein unverzichtbarer Bestandteil des klassischen Zirkus seien, belehrte man mich. Dabei interessierten mich weniger die Kunststücke wie Achterlaufen, Gegenlaufen, Pirouette oder die sogenannte Ungarische Post, bei der ein Reiter, auf einem Pferd stehend, die Zügel von mehreren weiteren hält, die man den Tieren innerhalb der sogenannten Freiheitsdressur beigebracht hatte, son-dern viel lieber sah ich sie bar jeglichen Zwanges bei der fachmännischen Pflege des Fells und der Hufe zu oder beim Ausführen auf dem Zirkusplatz, denn die tägliche Bewegung dieser stolzen, schönen Tiere war außerhalb der Vorstellungen und Proben unverzichtbar.
Deshalb konnte ich mir vorübergehend auch vorstellen, der schönen Tu Aya nachzueifern, die allabendlich das Publikum begeisterte, indem sie auf ein galoppierendes Pferd sprang, dessen Sattel zwar mit kostbarer Seide bedeckt war, aber keine Steigbügel trug. Auf dem Pferderücken machte Tu Aya dann waghalsige Sprünge oder ließ sich seitwärts mit dem Kopf nach unten fallen. Der Höhepunkt der Nummer war jedes Mal, wenn Tu Ha, ihr Partner und Ehemann, zusammen mit einem Helfer eine breite Stoffbahn ausbreitete, unter der das Pferd durchgaloppierte, während Tu Aya über den Stoff sprang und stehend wieder auf dem Pferderücken landete.
Faszinierend fand ich auch Juan, den asiatischen Kragenbären, der eigentlich eine Bärin war, denn Juan ist ein Frauenname und bedeutet „Die Schöne“ oder „die Anmutige“. Sein „bàba“, P’an Nhat, der sie von klein auf besaß und dressiert hatte, erklärte mir, dass weibliche Kragenbären deutlich weniger Gewicht aufweisen und etwas leichter zu dressieren seien, und dass man diese Bärenart auch Mondbär nennt, wegen der weißen, sichelförmigen Fellfärbung auf der Brust, während er den Namen Kragenbär den längeren buschigen Haaren im Halsbereich verdankt. Dass man die kuscheligen Teddys nicht unterschätzen sollte, zeigten nicht nur die langen ausgeprägten Krallen, sondern die Tatsache, dass auch Juan in der Manege nur an der Longe geführt wurde und sie zusätzlich einen Maulkorb trug. Da bei Bären ihre Mimik anders als bei Raubkatzen einen bevorstehenden Angriff nicht ankündigt, gelten Bären bei der Dressur als unberechenbar, sagte man mir. Ich wollte einfach nicht glauben, dass von dem possierlichen Tier, das so niedlich Fahrrad fuhr, auf Rollschuhen oder Stelzen lief und zum Takt der Musik tanzte, eine Gefahr ausging, bis mir Zuko etwas erzählte, das er bei den Erwachsenen aufgeschnappt hatte.
Vor Jahren hatte sich Folgendes