Lucile. Willi van Hengel

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Lucile - Willi van Hengel

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hin- und hergetrieben zwischen sich und der Welt, ohne diese Kluft überbrücken zu können. Es ist etwas, über das man nicht sprechen kann, worüber man also schweigen muss, weil es sich – eben ausgesprochen – auslöscht.

      Die wahren Künstler sind die Philosophen; glaube mir, die Philosophen, die der Wahrheit eins auswischen und aus den Tiefen aufsteigen wie Phönix aus der vertrockneten und staubigen Asche, um mit einem fallschirmseidenen Lächeln über eine Welt aus Worten hinweg zu segeln, getragen von den Winden des Fremdseins, des einzigen Vertrauens einer enthaupteten Jungfräulichkeit, derer wir uns sicher sein können. Androgyne, Androgyne, höre ich dich aufschreien im fernen Paris – ist es eigentlich auch so heiß dort? –, Androgyne, immer wieder, und weiß, besser als je ein anderer zuvor, um deine melancholische Ausgelassenheit, um deinen tiefen, archaischen Wunsch, nackt, splitternackt, überall und immerzu nackt sein zu wollen. Aber du schämst dich. Warum eigentlich?

      Du siehst, ich habe mir Gedanken gemacht über dich und mich, über die Welt und unser Schweigen. Ich hoffe, dass es dir nicht unangenehm ist, von mir in ein Gespräch verwickelt zu werden, das du vielleicht gar nicht führen willst (was ich aber nicht glaube!). Aber es steht dir ja frei, den Brief zur Seite zu legen, oder in den Ofen zu werfen. Hast du diesen zierlichen Ofen noch, mit dem du im Winter deine Zimmer beheizt? Steht er noch an seinem Platz, in der Ecke hinter dem Bett? Damals, als ich dich besucht habe, es war das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, im Winter neunundneunzig, mussten wir die Verbindungstür der beiden Zimmer offen lassen, damit die Wärme sich gleichmäßig ausbreiten konnte. Ich habe immer auf dem Boden vor dem Ofen gesessen (ich glaube, mir war dauernd kalt) und mich von Zeit zu Zeit mit dem Rücken an seine Glastür gelehnt, es jedoch nie länger als eine halbe Minute ausgehalten; mir wäre sonst durch den Pullover hindurch die Haut verbrannt. Oft hast du mich gefragt, ob mir nicht warm genug sei und ob ich mich nicht lieber in den Sessel oder aufs Bett setzen wolle, was mich verwirrt hat. Erst später ist mir aufgegangen, dass ich deinem Blick im Wege gesessen habe. Du schautest so gerne ins lodernde Feuer, starrtest hinein, bis auch der letzte klare Gedanke verglüht war. Nie hast du gesagt, was du eigentlich wolltest; immer hast du nur stille Zeichen gegeben, die ich entdecken und entschlüsseln sollte.

      Deine unerklärlich schlechte Laune war Zeichen der Unzufriedenheit mit meiner Unachtsamkeit. Was du von mir und von dir verlangtest, war eine Aufmerksamkeit, die man eine Dechiffrierung der Seele nennen könnte; sie sollte die unscheinbarsten leiblichen Wallungen lesen. Im gleichen Atemzug beklagtest du den Makel der Intellektuellen und meintest mich damit, nur weil ich mich für die Welt hinter der Welt interessiert habe, für das, was uns eigentlich interessiert, wofür wir jeden Tag aufstehen, oder was wir beim Aufwachen als erstes denken, die Lider noch verschlossen, oder was wir fühlen, wenn wir beleidigt werden, wie unser Ego schwimmt und taumelt – und meintest mit Makel, dass wir nicht normal reden würden. Uns als was Besonderes betrachten, meine Güte, wir sind doch nicht wie Kühe auf der Weide, die saublöd aus ihrer schwarz-weiß gescheckten Wäsche glotzen und sich wundern, warum man sie für so blöde hält; einmal eine Kuh sein, dann hätte ich erst recht einen Makel an Intellektualität, aber das will ich nicht einmal. Die Worte selbst weinten, wenn du sie ausgesprochen hast; von jedem Buchstaben tropften ihre Tränen, die in Wirklichkeit deine nichtgeweinten Tränen waren, herab. Du trautest dich nicht zu weinen. Von anderen aber hast du es verlangt.

      Morgens, wenn du Holz in den Ofen gelegt hast – es glühte noch ein wenig (ich glaube, dass es meine Mutter gewesen ist, die dir diesen Hausfrauendreh verraten hat, vor dem Schlafengehen ein Brikett in Zeitungspapier eingewickelt ins abklingende Feuer zu legen) und es sich von neuem entzündete, begann es oft zu qualmen, weil du ein ums andere Mal vergessen hast, das Ofenrohr zum Kamin zu öffnen, den Hebel auf die andere Seite zu drehen. Kaum dass du wieder ins Bett unter die kuschelig weiche Decke geschlüpft bist (wir wollten erst dann aufstehen, wenn es wärmer im Zimmer geworden ist, denn unseren Atem konnten wir sehen, so kalt war es), stand die ganze Wohnung unter Qualm. Aber nicht du, sondern ich bin aufgesprungen und habe die Fenster geöffnet, damit wir nicht erstickten und uns die eiskalte Pariser Wintermorgenluft das Leben rettete. Dir ist alles egal gewesen. Du wärst liegen geblieben, bis die Feuerwehr angerückt wäre und die Tür aufgebrochen hätte, und du wärst sauer gewesen, dass du die ganze Zeit hättest husten müssen, fast ohnmächtig in deinem Bett liegend. Einmalig deine Trägheit (oder wie soll ich es nennen?). So sieht doch keine Wirklichkeitsflucht aus!

      Ich bin nun ziemlich erschöpft, Lucile, morgen schreibe ich dir mehr.

      einen Tag später

      Gestern Abend fühlte ich mich leer, im Begriffe, mich aufzulösen, oder war ich schon aufgelöst? Ich fühlte mich, als sähe ich zu, dass mich irgendeiner ausradiert, und es blieben von mir nur Radiergummikrümel übrig. Das soll gar nicht traurig klingen, obwohl ich es ein wenig bin. Die Sehnsucht nagt an mir. Ich denke nur noch an den Tag, an dem ich André wiedersehen werde. Die Gedanken sind in die Enge getrieben, von Ohnmacht umzingelt; vielleicht wissen sie keinen anderen Ausweg, als sich auslöschen zu wollen. Man hätte fast Mitleid mit ihnen haben können, wären es nicht meine eigenen gewesen. Ich hielt es in meinem Zimmer nicht mehr aus; weder der Fernseher noch irgendein Buch noch ich selbst wussten mit mir was anzufangen. Die lange Zeit – zehn Tage, bis ich André wiedersehen werde – schoss mir wie ein Wasserfall, der plötzlich eine Staumauer durchbricht, ins Gesicht. Ich war wie vom Blitz getroffen, spürte das Zerbrechen und Zerreißen der Schleimwände im Magen, der Herzklappen in der Brust, als André mir sagte, dass wir uns fast zwei Wochen nicht sehen würden, er müsse zehn oder elf Tage nach Dubrovnik verreisen, der schönsten Stadt der Welt. Schon dreimal sei er dort gewesen, jedes Jahr im April finde dort ein Physikerkongress statt, nur in diesem Jahr sei der Termin verschoben worden, wegen der Auswirkungen des Krieges zwischen den Serben und Kroaten. Sein Professor habe ihn auch in diesem Jahr gebeten, sein Referent zu sein und für die von ihm herausgegebene Spezielle Zeitschrift für Physik Verlauf und Ergebnis der Tagung festzuhalten (bei dem Wort Ergebnis habe sein Professor verschmitzt zu lächeln begonnen). Außerdem hatte André gesagt, wobei er wohl ebenso verschmitzt wie sein physikalischer Meister gelächelt hatte, haben wir uns im April kennengelernt, genau in der Woche, in der normalerweise der Kongress stattgefunden hätte. Es war für mich nicht ganz einfach, seine Worte hinunterzuschlucken, gerade zu einer Zeit, als wir uns sehr aneinander gewöhnt hatten und ich ihn jeden Tag um mich haben wollte.

      Auf der Flucht vor mir selbst bin ich in eine Kneipe gegangen, in eines dieser überfüllten und mit Rauch und grässlich lauter Musik aufgepumpten Löcher, die letzten Endes alle gleich auf mich wirken: wie schlecht beleuchtete kalte Klos. Aber gerade wenn du dich leer fühlst, wenn du genervt bist, jedes Wort zu viel ist und wie ein elektrischer Stromschlag in dich fährt, kurz: wenn du deine Haut abstreifen willst wie eine Schlange, um ein neues Leben zu beginnen, ganz einfach von einem Augenblick zum nächsten: ein neues Leben beginnen (wie schön es klingt …), dann kann dich ein solches Pissoir vor dem Schlimmsten bewahren. Du setzt dich an die Theke und bestellst ein Bier und einen Schnaps – und alles widert dich an, der Ekel auf der Zunge und in den Augen und zwischen den Fingern, umgeben von lauter Stillosigkeiten, lauter blassen unliebsamen Stillosigkeiten wie der verklebte Tresen unter deinen Unterarmen. Ich hatte noch nicht einen Schluck Bier getrunken, schon saß ein übermäßig nach Deo, Haarshampoo und Rasierwasser riechender Mann, blond, sehr blond, neben mir. Er stellte sein halbvolles Bierglas neben meinen Schnaps, räusperte sich, nachdem er sein auberginefarbenes Sakko zurechtgerückt hatte, und fragte mich mit einer aufdringlich tiefen Stimme, ob ich schlecht gelaunt sei, wohl eine Laus über die Leber gelaufen, was. Während er das sagte, schob er sein Bier an mein Schnapsglas und stieß es an; dabei schwappte ein Tropfen Korn über den Rand der kleinen Wanne. Tschuldige, nuschelte er und redete weiter, sagte, dass er studiere, ach was dachte ich, jedoch seit zwei Jahren keinen Schein mehr gemacht habe und sich nun frage, ob es besser wäre, alles hinzuschmeißen und sich einen Job zu suchen, obwohl … arbeiten wolle er eigentlich auch nicht; eigentlich wisse er gar nicht, was er wolle … Er redete in einem fort, so als sei ich gar nicht da; vielleicht sollte ich auch nur den Seelendoktor spielen. Was das Ganze sollte, wusste ich nicht, mochte ihm

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