Lucile. Willi van Hengel

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Lucile - Willi van Hengel

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alleine zu sein. Zwischenzeitlich hatte ich sogar einmal überlegt, ob ich ihm mein Bier ins Gesicht schütten sollte, war aber sehr schnell wieder davon abgekommen – es wäre zu lächerlich gewesen. Also nahm ich mich zurück, indem ich mein Gereiztsein in eine Frage münden ließ, die mich – nachdem er zwei Asbach-Cola bestellt hatte, denn Schnaps, vor allem Asbach, helfe gegen alles – wesentlich eher befriedete als ein ins Gesicht geschüttetes Bier. Ob er das Bild dort drüben, zwischen Fenster und Toilettentür, sähe, fragte ich ihn, und ob er es genauso abscheulich fände wie ich, und nicht nur abscheulich und abstoßend, sondern mehr noch, ekelerregend und lächerlich, also alles in allem in einzigartiger Weise stillos und belästigend. Sichtlich den Beginn eines amüsanten Gespräches vermutend bemühte er sich, mir schnell zu antworten. Mit dem Kopf nickend sagte er in einem lässigen, aber ernsten Ton, dass die meisten Bilder in Kneipen einfach nur schlecht seien, und lächerlich, das sei ein guter Ausdruck, der einzig passende sogar, schlechte und lächerliche Bilder, wo man hinsähe, so wie die Künstler selbst, die sich selbst zum Künstler ernennenden Künstler, die sich für die größten hielten, kaum dass sie einen Pinsel oder einen Stift zwischen den Fingern spürten … Ja ja, unterbrach ich seinen überschäumenden Redefluss (dass ich über die Künstler genauso dachte wie er, verschwieg ich), aber meinst du nicht, dass es dennoch einen gewissen Wert hat, den man beim bloßen Hinsehen nicht erkennt, also folglich erleben muss – er hörte mir gespannt zu –, allein indem ich dieses abscheuliche und lächerliche Bild (es ein Kunstwerk zu nennen wäre eine Hybris) um ein Vielfaches lieber anschaue als das Profil und das Ohr dessen, und es mir ein Vielfaches mehr zu sagen hat als der Mund dessen, der gerade neben mir sitzt …

      Er schreckte zusammen, drehte ruckartig seinen Kopf zu mir und sagte, während er seine Erregung zügelte und vom Barhocker kletterte: kalt erwischt. Dann nahm er sein Bier in die eine, den Asbach in die andere Hand und setzte sich wieder an den Tisch, an dem er schon vorher gesessen hatte.

      Die Erfahrung schlechter Kunst als Lebensretterin, dachte ich auf dem Nachhauseweg, und es ging mir wieder besser.

      Heute Morgen, als ich aufwachte, fühlte ich mich benommen und schlecht, wie nach einer durchzechten Nacht. Der Mund war ausgetrocknet, die Glieder weich und malade, als hätte ich Butter in den Knochen. Das Gefühl, geschlagen oder gerädert worden zu sein von meinem eigenen Traum, von dem ich zum Glück nichts mehr wusste. Ich mochte gar nicht erst aufstehen, warum auch, was würde der Tag mir bringen, auf ausgestreckten Händen und Füßen in einem Clownskostüm, außer dass ich ihn immer bewusster zu ersticken versuchte. Ich bin nun einmal so, Lucile, ich kann nichts dafür, und ich denke, dass ich das alles bis zum Exzess ausleben und ausdenken und wegschreiben muss, um wieder davon los zu kommen. Und ich kann immer wieder nur betonen, dass ich nur dir das alles schreiben kann, nur dir, wem sonst? Und weißt du, was ich machen werde? Ich werde die Briefe nicht noch einmal lesen, also auch nicht korrigieren und abändern, vielleicht sogar ein ganzes Blatt zerreißen und in den Papierkorb schmeißen, nur um etwas zu vertuschen oder mich für etwas schämen, nein, es soll alles so zu dir rüberkommen, wie es aus mir rauskommt, in aller Unmittelbarkeit, egal wie unbeholfen und fremd es sich anhören mag.

      Lucile, vergib mir. Aber es erleichtert mich, wenn ich so schreibe, so schreibe wie ich denke. Ich verliere mich oft in der Eile, weil ich mir selber Flügel schaffe, um über das bloße Beurteilen und Wahrnehmen der Dinge hinaus zu fliegen. Vielleicht bin ich es nur nicht mehr gewohnt, einen Vogel morgens beim Aufstehen zwitschern zu hören, oder einen Hund bellen zu hören, die mehr noch verwundert darüber sind, dass sie eine Antwort bekommen, ein anderes Vögelchen, das sich meldet mit einer noch helleren Stimme, einem noch schöneren Klang, und irgendwo in der Ferne ein zweiter Hund, der zu bellen beginnt, in einer Wiese hinter einem Zaun stehend. Ich muss mich wieder den normalen Dingen widmen, die Welt hinter der Welt vergessen, sie nimmt mir alles, allen Mut, alle Freude, alle Gleichgültigkeit, ich muss es tun – aber erst, wenn André wieder bei mir ist!

      Selbst die scheinbar klarste Gewissheit, dass ich das hier bin, hat er mir genommen, in Streifen gerissen wie ein Blatt Papier, aber ganz langsam mit einer Bedächtigkeit, die mich wütend macht. Noch während ich sage, dass es mich gibt und mir selbst beschreibe (wie einem Ungläubigen, dem man vom Fegefeuer erzählt), wie es mich gibt, denke ich, wie weit es mit mir gekommen ist, wie bescheuert ich sein muss, mir über die Dinge den Kopf zu zerbrechen, über die andere lachen, ja, nicht einmal das, sondern nur mit dem Kopf schütteln und sich – vielleicht völlig zu Recht – sagen, dass man schon ziemlich anders sein muss, um so zu sein. Oder? – Man merkt, sagte Marie-Therèse letztens zu mir, dass du mit einem von der Uni zusammen bist, und dann auch noch einen aus der Abteilung Kopfschuss, hättste dir wenigstens einen Rechtanwalt genommen, oder einen Sportlehrer oder Deutschlehrer oder Erdkundelehrer, die sind vielleicht doof, sonst wären’se nicht Lehrer geworden, aber wenigstens nicht so schwierig. Sie wollte mich nicht kränken, ich spürte es, aber verkneifen konnte sie es sich auch nicht. Zum Schluss sagte sie noch, dass André ein wirklich netter Kerl ist …

      Ich sitze wieder in meinem geliebten Garten. Es ist noch früh; gerade schlägt die Kirchenglocke zehn Uhr. Der angehende Tag hat die kühlen Spuren der Nacht noch nicht ganz verwischen können; mühsam klettern die noch müden Sonnenstrahlen auf den hohen First der Dächer (übrigens ist unser Haus etwas kleiner, weil es 1910, also zwei Jahre früher als die anderen Häuser, gebaut worden ist). Manchmal fällt eine noch unreife, grüne Kirsche auf den Tisch; es gibt einen leisen Knall. Manchmal fallen sie genau auf das Wort, das ich dir schreibe. (Verkneif dir dein Lachen, Lucile, ich weiß, was du jetzt denkst, wenn sie mir auf den Kopf fallen).

      Ich glaube, nur die Ameisen sind ausgeschlafen; sie krabbeln fröhlich über meine Füße hinweg wie über einen Berg, den sie gerne besteigen. Ein mit etlichen Blättern bekleideter Zweig neckt mich; er beugt sich im Spiel des Windes zu mir herab und kitzelt mich am Nacken.

      Ich sitze hier mit leerem Magen (meine liebe Mama kocht gerade einen Kaffee; sicherlich wird sie mir gleich eine Tasse und, auf einem kleinen Teller, zwei geröstete Toast mit Quark und Himbeermarmelade herausbringen; sie ist emsig wie eh und je und macht alles für mich, du kennst sie ja; nur ihr Herz, eine eingeengte und poröse Herzklappe, macht ihr zu schaffen). Er knurrt vor Hunger. Dennoch will ich meinen Gedanken zu Ende führen, ihn dir schnell schreiben.

      Schreiben.

      Sobald mir dieses Wort einfällt, faltet sich meine Zunge, so wie sich eine Hand zum Gebet in die andere faltet. Nur: mir fehlt eine zweite Zunge. Weißt du, ich fange an zu schreiben und denke, es ist mit einem Satz getan. Aber kaum habe ich zwei oder drei Worte geschrieben, gleite ich ab in einen neuen Gedanken, den ich dir dann auch noch sagen will – und das Ganze fängt von vorne an. Das meine ich (oder vielmehr André) mit Unendlichkeit, man gelangt nie an ein Ende, ich meine an ein definitives Ende, endgültig, verstehst du? Ich weiß, Lucile, es hilft nichts. Jeder bleibt mit seinem Gebet allein. Der einzige Halt ist der Anblick der gefalteten Hände, der Umarmungen aller Finger.

      Ich schlüpfe wie ein philosophisches Embryo aus Andrés Mund, um den Ballast unausgegorener Gedanken in dir abzuladen.

      Stell dir einmal vor, Lucile, du würdest mit einem Mal alles was du denkst und siehst, alles was du erlebst, in »Anführungszeichen« setzen; nichts könnte sich mehr für das ausgeben, was es zu sein vorgibt; jeder Begriff, jeder Mensch, wäre ein Nomade, die Welt eine einzige Unabhängigkeitserklärung der Dinge, so wie wir es immer gewollt haben, weißt du noch?

      Während ich schreibe, das ist meine Form von Beten, Atmen, bin ich vor nichts mehr sicher – ich weiß nicht mal mehr, ob ich laut Amen gesagt oder genuschelt oder es nur gedacht habe. Die Fragen und Zweifel entfesseln sich, indem sie geschrieben werden. In dieser Unmittelbarkeit (wir beneiden die Tiere nur dann nicht, wenn wir glücklich sind), dass ich hier im Garten an einem wackligen Campingtisch sitze, der nicht mehr einzuklappen geht, einen kleinen Stapel Blätter vor mir, die ich mit der linken Hand beschwere, ein immer stürmischer werdender Wind

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