Eine von den Vermissten. Harry Peh

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Eine von den Vermissten - Harry Peh

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vor. Mein Mann hat beschlossen, dass meine Schwester ebenso an dem Appell teilnehmen soll. Vielleicht nimmt er sie auch nur mit, weil er fürchtet, ich könnte im letzten Moment abspringen. Ja so ist er, immer schön absichern, alles und jede Eventualität. Langsam drängen sich mir Fragen auf, komische und unangenehme. Ich sehe ihn von schräg hinten und denke, dass ich mich vielleicht doch geirrt habe. Ein Foto kommt mir in den Sinn, ein Foto, das Henrike bei unserer Hochzeit gemacht hat. Es zeigt mich in meinem weißen Kleid allein an einem Tisch sitzend, von der Seite. Ich starre abwesend ins Leere. Alle meinten, dass wir dieses Foto nicht nehmen sollten, es passe nicht zu der fröhlichen Feier und schon gar nicht zu dem zauberhaften Paar. Doch heute weiß ich, bin mir absolut sicher, dass es das einzig passende Foto war und ist. Das einzig richtige Foto von hunderten von Fotos, die auf unserer Hochzeit gemacht wurden. Als hätte mir mein Fehler, mein lebenslänglicher Fehler, ungewollt und unbewusst bereits dort im Gesicht gestanden, unmittelbar, nachdem er begangen worden war. Und niemand außer Henrike hätte ihn so festhalten können. Meine Schwester. Wollte mich schon immer vor allen Gefahren bewahren. Vielleicht hat sie das alles vorhergesehen. Ich meine nicht die Ermordung meiner Tochter. Sondern das Scheitern dieser Ehe.

      Sofort nach der Ankunft beim Sender drängen sich Menschen mit Kameras um uns. Zwei Angestellte und mehrere Polizisten bringen uns in Sicherheit und führen uns in einen Raum, der leer ist. Man erklärt uns das Prozedere. Wann wir zu sprechen hätten. Wann die Lämpchen leuchteten und wann nicht. Dass wir ungefähr fünf Minuten Zeit hätten und uns deshalb konzentrieren sollten. Sie wisse, so die Dame, dass das in dieser Situation nicht einfach sei. Doch bedeuteten fünf Minuten eine recht kurze Zeit, die wir nicht mit unangebrachten Reaktionen vergeuden sollten. Sie bietet uns Kaffee an. Henrike und mein Mann bedanken sich, ich lehne dankend ab. Ihre Körperhaltungen und Bewegungen sind auffallend synchron als sie nach den Tassen greifen. Das ist mir noch nie so aufgefallen. Ich frage mich, warum ich ihm letztlich zugestimmt habe. Er stellte mir diese Frage, 'Du willst doch unser Kind retten, nicht wahr?' Als stünde das zur Debatte. Unser Kind, dachte ich, ist längst tot. Er ist doch sonst nicht so ein Traumtänzer. Warum kann er der Wahrheit nicht endlich ins Gesicht sehen? Warum enttäuscht er mich schon wieder?

      Eine Frau betritt den Raum, recht forsch und bestimmt. Sie trägt ein graues Kostüm, schwarze Strümpfe und ist sehr akkurat zurechtgemacht. Die vorzeitigen Fältchen hat sie gekonnt mit einiger Professionalität weggecremt. Der Rock ist für meinen Geschmack etwas zu kurz. Er verrät ihre Intentionen allzu früh. Offensichtlich hält sie sich für etwas ganz besonderes und leider hat man sie offensichtlich mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet. Kompetenzen, die ihr vielleicht aufgrund einer guten Qualifikation zustehen, die sie aber charakterlich nicht ausfüllen kann. Ihre Überforderung ist nicht gleich und nicht leicht zu erkennen. Sie ist seit einigen Jahren so sehr mit dem Zwang des Ausfüllens einer Rolle beschäftigt, in die sie sich selbst gedrängt hat, dass sie sich auf ihre eigentlichen Aufgaben kaum konzentrieren kann. Solche Menschen haben gelernt wie sie sich bewegen müssen. Welche Körperhaltung gegenüber welchem Kunden und Vorgesetzten am geeignetsten ist. Wer wann wem die Tür aufhält, den Platz anbietet, zuerst gehen darf oder doch besser für einen Moment zurückbleibt. Sie entspricht dem klassischen Typ eines jungen Emporkömmlings, adrett, nett, glatt und erschütternd uninteressant, der an jeder Karrierestation zu früh ankommt, sich im entscheidenden Moment aber wundert, wenn der Zug ohne ihn abgefahren ist. Solche Frauen existieren zu zehntausenden in all den wichtigen Businessbüros in Hamburg, Frankfurt, München, Köln und was weiß ich wo noch. Ich habe solche Frauen zuhauf in der Firma.

      Sie fragt Henrike, ob sie die Mutter sei. Henrike deutet auf mich und legt ihre Hand auf meine. Ich sehe sie kurz an. Auch sie ist kaum wiederzuerkennen. Eigentlich kann ich nicht glauben, dass sie das Ganze auch so mitnimmt. Ich glaube, dass es einfach niemanden so mitnehmen kann wie mich selbst. Ich gestehe ihr ein Leiden nicht zu. Sie hat ein Recht zu leiden. Aber sie hat kein Recht so zu leiden wie ich. Die Frau in grau händigt mir einen Schreibblock aus und einen Stift. Sie sagt, ich könne meinen Appell aufschreiben und dann vor der Kamera vorlesen. Das helfe in solchen Fällen, da die Nervosität mit zunehmender Zeit gewöhnlich ansteige. Ich sehe sie lange an. Direkt in die Augen, die mit zunehmender Dauer zucken. Sie wendet sich ab. Ich wusste das. Ihre ganze erbärmliche Mittelmäßigkeit lässt sie nicht standhalten. Sie kann noch nicht einmal der Mutter eines toten Kindes dreißig Sekunden lang in die Augen schauen. Jämmerliche dreißig Sekunden!! Mein Gott, dreißig kleine Sekündchen. Unsere Blicke treffen sich erneut. Ich sehe meine Augen in ihren lachen. Sie lachen sie aus. Sie weiß, wäre sie an meiner Stelle, dass sie schwach genug wäre, sich aufzuhängen. Oder einzuschläfern. Oder sonstwie umzubringen. Und in diesem Moment weiß sie, dass ich sie längst gebrochen habe. Sie weiß, sie wird mir nie wieder, mit welcher Maske auch immer, gegenüberstehen können. Nicht heute, nicht morgen und nicht in dreißig Jahren, wenn wir uns zufällig irgendwo begegnen sollten. Dieser Moment bereitet mir Freude und ich möchte ihn noch einen Moment lang auskosten. Ich stelle ihr also ein, zwei unbedeutende Fragen. Wie denn gewöhnlich solch eine Show ablaufe und wie denn aufgrund ihrer Erfahrung die Reaktion auf solche Appelle ausfalle. Sie stottert irgendetwas. Dass es sich hier nicht um eine 'Show' handele und dass sofort jemand bei mir wäre, sollte ich kollabieren oder mir schlecht werden. Woher nimmt sie an, mir könnte schlecht werden? Ich verstehe, mein Mann hat sie geimpft, ein kleines Briefing vorneweg. Verstehe, verstehe. Man ist bereits soweit, mich als potentiellen Störfaktor anzunehmen und Präventivmaßnahmen zu ergreifen, damit der ordnungsgemäße Ablauf des Appells nicht gestört wird. So ist das also. Sie fährt fort. Gemeinhin könne man sowas aber nicht prognostizieren. Aber dass ein Appell insgesamt mehr bringe als nichts. Ich möchte von ihr wissen, was er denn mehr bringe als nichts. Sie hat für einen Moment ihre Fassung wiedergewonnen und sieht mich tatsächlich an. 'Aufmerksamkeit!' ruft sie mir zu. 'Aufmerksamkeit, wie menschenunwürdig manche Zustände sind'.

      Für einen Augenblick bin ich wie betäubt. Ich möchte sie um eine Wiederholung ihres letzten Satzes bitten, doch ich bringe nichts heraus. Nichts außer einem Krächzen mit offenem Mund. Ich röchle irgendwas und laufe rot an. Das Blut schießt mir in den Kopf und mir wird schlecht. In einem weiten Schwall übergebe ich mich. Ich kotze die ganze Fläche vor mir voll und habe kleine Bröckchen auf meiner Bluse. Die Frau in grau ist ruckartig seitwärts zurückgewichen. Ihr Kostüm blieb unbefleckt. Henrike wühlt hektisch in ihrer Handtasche nach Taschentüchern. Sie tupft mir die Bluse ab und breitet einige Tücher über die Lache am Boden. Ich nehme mir ein Taschentuch und schnäuze mir die Nase. Den säuerlichen Geruch werde ich nicht los.

      Henrike begleitet mich zur Toilette. Sie hilft mir beim erneuten Reinigen der Bluse. Aufgestützt betrachte ich mich im Spiegel. Immer dichter gehe ich an das Glas bis meine Nasenspitze auf der kalten Spiegelwand plattgedrückt wird. Henrike steht einige Meter hinter mir und weint. Ich gebe ihr ein Handtuch und sage, sie müsse nicht weinen. Sie sieht mich entgeistert an. In ihren Augen stehen Rätsel über mich, mein Verhalten, meine Aussagen. Ich kann dieses Rätselraten lesen, fühlen, ja akustisch wahrnehmen. Als würden ihre Fragen selbständig zu mir rüber wandern, weil Henrike außerstande ist, sie zu formulieren oder ich unfähig bin, sie aufzunehmen. Sie zeigt plötzlich mit dem Finger auf sich und sieht mich fragend, beinahe flehend an. Für einen Moment verstehe ich nicht. Dann wiederholt sie ihre Geste mit einem verheult gestammelten 'Soll ich...?' Ich sehe sie an und gehe auf sie zu. Sie an meiner Stelle? Meint sie das wirklich? Kann das auch nur ansatzweise ihr Ernst sein? Ich fass' es nicht. Beide Hände auf ihre Schultern gelegt, fange ich an zu schmunzeln. Erst zu schmunzeln, dann lächle ich. Und dann lache ich. Ich lache, bis mir die Tränen aus den Augen schießen. Sie fragt mich, was ich hätte. Ich kann zunächst nicht aufhören zu lachen. Doch als mein Verstand wieder klarer wird, schüttle ich Sie. Ich spreche sehr laut. Nein, ich schreie. Ich brülle zum ersten Mal seit Marias Verschwinden und seit ihrem Tod auch. Ich schreie sie an, ob sie denn jetzt völlig durchdreht. Ob sie von allen guten Geistern verlassen ist. Was ihr einfällt und wie sie es wagen kann, sich in eine Mutterrolle zu drängen. Wo sie doch selbst keine Mutter ist. Ha, diese Sozialpädagogin. Lächerlich!! Hat keine Kinder und will an meinen Platz. Das halte ich nicht aus. Henrike fängt an zu weinen. Aber sie hat keinen Grund dafür. Beim besten Willen und allem Verständnis nicht. Nicht jetzt, nicht heute und morgen, niemals hätte sie ein Recht dazu. Ich will ihr die Tränen wegwischen, gewaltsam. Es ist kein Wischen,

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