Angstkind. Sonja Schöning

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Angstkind - Sonja Schöning

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die nichts zuwege gebracht hat. Wie man sich nur von etwas so Banalem wie Angst ausbremsen lassen könne, sagen sie. Schließlich lebten wir hier in Mitteleuropa, in einem Land mit optimaler medizinischer Versorgung. Es gebe Therapien, es gebe Tabletten. Wenn die eine nicht helfe, probiere man halt eine andere aus. Und dann funktioniere man wieder perfekt. So einfach ist das für sie. Heute haben sie den Kontakt zu mir ganz abgebrochen.

      Die Sommerferien in jenem Jahr sind mir in schrecklicher Erinnerung. Wie immer fuhren wir zu den Großeltern nach Österreich, meine Mutter, ich und meine Schwestern. Mein Vater blieb stets zu Hause. Die einfachen ländlichen Verhältnisse mit Plumpsklosett und Wasser aus dem Brunnen konnte er nicht ertragen. Früher hatte ich mich immer auf diese Wochen gefreut. Schon die lange Zugfahrt mit der dampfenden Lokomotive war ein großartiges Abenteuer. Jedes Mal erwartete uns der Großvater mit dem Handkarren auf dem kleinen Bahnhof, verlud das Gepäck, und dann ging es durch Felder und Wiesen zum kleinen Haus der Großeltern, ganz nah am Waldrand. Ich konnte es kaum erwarten, die Ziegen, Hasen und Gänse zu sehen und in den kleinen Konsum unten im Dorf zu laufen, wo wir uns für ein paar Schilling jeden Tag Schokolade und Almdudler kaufen durften.

      Diesmal fand ich alles bedrückend. Der Wald erschien mir viel zu schwarz, in unserem einsamen Dorf gab es kein Auto, kein Telefon und natürlich auch keinen Arzt. Wie sollte ich Hilfe bekommen, wenn mich die Angst packte und mein Herz schrecklich zu rasen begann?

      Seit einiger Zeit schon spürte ich oft einen Kloß im Hals, der mich irgendwie zu ersticken drohte. Ich wollte nach Hause, in die Sicherheit der Großstadt, wo es Ärzte und Krankenhäuser gab. Ich wollte nichts unternehmen, nirgendwohin gehen. Nicht einmal mit meinem Großvater in den Wald zum Pilze suchen, nach dem Regen, wenn die Dunstschwaden aus dem Boden aufstiegen und die Schwammerl besonders gut schossen. Noch heute ist mir der Duft der in frischer Butter geschwenkten Pfifferlinge gegenwärtig. Dazu gab es kleine Kartoffeln und Gurkensalat. Ich glaube, ich habe nie mehr etwas so Köstliches gegessen.

      Aber in diesen Wochen hatte ich keinen Hunger. Ich war blass. „Das Madl schaut aber gar nicht gut aus“, befand die Schneiderin, die uns jedes Jahr ein neues Dirndlkleid anfertigte. Das zu hören erschreckte mich zutiefst. Man konnte mir also ansehen, dass ich krank war. Auch heute noch vertrage ich Sätze wie „Du siehst ein bisschen abgespannt aus“ oder „Hast zu abgenommen?“ nicht. Sie treffen mich tief und ich fühle mich sofort sehr schlecht. Auch Mitgefühlsäußerungen wie „Ach, du armes kleines Ding, du bist ja wirklich nicht zu beneiden“ waren und sind mir schlicht zuwider.

      Auch während der Ferien in jenem Jahr gab es wieder einen Ausflug über den großen See. Ich weigerte mich, das Schiff zu betreten. Der Kapitän wurde gerufen. Gemeinsam mit meiner Mutter beförderte er mich an Bord. Dort saß ich dann auf einer Holzbank, weinend und verkrampft. Besorgte Mitreisende fragten nach, was denn das Madl habe. „Nur Angst“, zischte meine Mutter. Sie war sehr wütend auf mich.

      Der Einzige, der viel Zeit mit mir verbrachte, war ihr Vater, mein Großvater. In seiner Gegenwart fühlte ich mich wohl und sicher. Oft saßen wir zusammen auf der kleinen Holzbank vor dem Haus. Er konnte Geschichten erzählen, die mich faszinierten, von langen Wintern beispielsweise, in denen der Schnee so hoch lag, dass man die Haustür nicht mehr öffnen konnte, von meiner Mutter, als sie ein kleines Mädchen war und jeden Tag zehn Kilometer in die nächste Dorfschule laufen musste. Oder von den Geheimnissen des großen Waldes, in dem es so viele Tiere und Pflanzen gab, von denen ich noch nie gehört hatte. Und wenn ich dann wieder das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen, weil der Kloß so drückte, nahm er mich in den Arm und sagte: „Schau her, um uns herum ist so viel Luft. Das ist für dich mehr als genug.“

      Meine Großmutter hingegen war sehr schroff und ungehalten mit mir. Ich habe sie immer als streng und wenig liebevoll empfunden. Schon ihre Statur flößte mir Respekt ein. Sie war eine schlanke, großgewachsene Frau. Ihr dunkles Haar war in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem straffen Knoten gedreht. Sie trug stets dunkle lange Kleider. In diesem Sommer ließ sie mich gänzlich links liegen. Und immer, wenn irgendwelche Unternehmungen anstanden, sagte sie: „Das Dirndl bleibt dahoam.“

      Ich besitze noch einige wenige Fotos aus jener Zeit. Zum Fotografieren fuhren wir in die nächste Kreisstadt, frisch gebadet, in unseren schönsten Kleidern, mit großen Schleifen im Haar. Manchmal betrachte ich heute das Gesicht meiner Großmutter und suche nach Ähnlichkeiten mit mir. Es gibt sie. Die ausgeprägten Wangenknochen etwa, oder die kleinen Fältchen über der Oberlippe.

      4.

      Heute bin ich selbst eine Oma. Meine Enkel sind noch klein. Ich wünsche und erhoffe mir für ihr Leben viele Dinge, vor allem aber, dass sie niemals krank werden vor Angst.

      Ich habe mich, so lange ich denken kann, mit Sorgen und Ängsten geplagt. Früher, in Kindertagen, konzentrierten sie sich auf meine Eltern und Schwestern. Ich habe drei; eine ist älter als ich, zwei sind jünger. Sie waren die wohl am meisten beobachteten und am besten behüteten Mädchen in der ganzen Stadt. Für meine Begriffe war das Leben eine gefährliche Angelegenheit. Lauerten nicht an jeder Ecke Gefahren, gab es nicht so viel Entsetzliches, das ihnen zustoßen konnte? Meine Fantasie war im Ausmalen von Schreckensszenarien schier unerschöpflich.

      Schöne Erinnerungen habe ich nur an meine sehr frühen Lebensjahre. Wir wohnten damals noch mit im Haus meiner Großeltern väterlicherseits, sehr beengt in kleinen Räumen. Die meiste Zeit verbrachte ich in der großen Küche meiner Oma. Sie war mir sehr zugetan, ich hatte ihren Vornamen und sie war meine Taufpatin. Ich glaube, sie mochte meine Lebhaftigkeit und Neugier. In meiner Erinnerung haben wir viel zusammen gelacht und geredet. Ganz oft hatte sie eine kleine Überraschung für mich, wie diese zufällig verlorene Kaffeebohne auf dem Küchenboden, die ich so gerne knabberte. Wenn sie große Mengen von grünen Heringen briet, ließ sie die Köpfe für mich im Spülstein liegen, damit ich sie genauestens begucken und untersuchen konnte. Ich durfte beim Kochen und Backen helfen und im Keller die Kohlen sortieren. Meine Oma war eine sehr kommunikative Frau, sie bekam oft Besuch, meist von Tante Luise und Tante Mathilde. Dann saß ich mucksmäuschenstill unter dem Küchentisch, betrachtete die dicken Beine bis hinauf zu den Strumpfbändern und lauschte den Gesprächen.

      Mein Vater bekam bald eine gute Stellung und wir zogen in eine große moderne Wohnung. Wann genau meine „Überängstlichkeit“, wie meine Eltern es nannten, begann, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich, als meine Schwestern flügge wurden und mein Vater oft auf Dienstreisen unterwegs war. Stand eine Reise an, drückten mich schon Tage vorher dunkle Gedanken. Was, wenn der Zug entgleiste? Wenn mein Vater in seinem Hotelzimmer überfallen und ausgeraubt wurde? Wenn er einen Unfall erlitt oder einfach nur krank wurde? Später, als ich schon ein bisschen lesen und schreiben konnte, habe ich ihm heimlich kleine Zettel in die Aktentasche gesteckt. Immer stand darauf, dass er schnell und gesund wieder nach Hause kommen möge.

      Die große Sorge um Menschen, die mir sehr nahe sind, ist mir immer geblieben. Nur lasse ich mir sie nicht mehr anmerken. Unsere große Familie ist mittlerweile noch größer geworden. Einerseits ist das schön, andererseits gibt es jetzt noch mehr Menschen, die ich liebe und um die ich mir Gedanken machen muss. Es gab Zeiten, in denen ich kinderlose Paare beneidet habe um ihr unaufgeregtes Leben. Allerdings muss ich gestehen, dass ich mir heute die meisten Sorgen um mich selbst mache – ganz anders als in meiner Kinderzeit.

      Meine Schwestern wurden allmählich selbständiger. Auch die jüngste war jetzt nachmittags schon allein mit ihrem Holzroller unterwegs, mit all den anderen Kindern aus der Nachbarschaft. Ich wusste, ich musste sie ständig im Auge behalten. Schließlich gab es sogenannte Kinderlocker, die einem schreckliche Dinge antun konnten. Meine ältere Schwester fuhr mit der Straßenbahn zur Schule. Ich kannte ihren Stundenplan genau und wusste immer, wann sie wieder zu Hause sein musste. Als sie sich einmal ziemlich verspätete, war ich außer mir vor Sorge. Ich rannte zur Haltestelle

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